„Ein Gedicht“
Ein Gedicht von Marie-Luise Kaschnitz
Dass Gedichte nicht aus Gefühlen, Erfahrungen, Erinnerungen oder irgendwelchen Thesen und Wahrheiten gemacht sind, sondern aus Worten (genauer: aus Wörtern), ist zwar eine Trivialität, muss aber immer wieder unterstrichen werden, da Lyrik nach wie vor mehrheitlich auf «Aussagen» und «Stimmungen» hin gelesen wird. Liebesgedichte, Naturgedichte, Kriegsgedichte, Todesgedichte erfahren weit mehr Zuspruch als das Gedicht schlechthin – das Gedicht als Wortgebilde, als sprachliches Kunstwerk. Lyrik mit künstlerischem Anspruch gilt grundsätzlich als schwierig, oft auch als unzeitgemäss, ihre Sprachform wird kaum noch beachtet, man bevorzugt Gedichte mit unmittelbarem Realitätsbezug und Human touch, Plaudergedichte, Befindlichkeitspoesie.
Dichtung, die sich selbst (oder die Sprache, das Wort) zum Gegenstand nimmt – poetologische Lyrik –, hat eine bis in die Antike zurückreichende Tradition; heute fehlt weithin das Interesse dafür. Ein Gedicht mit dem Titel «Ein Gedicht», wie Marie Luise Kaschnitz es in ihrem Band «Dein Schweigen, meine Stimme» (1962) vorgelegt hat, dürfte in zeitgenössischer Poesie schwerlich zu finden sein. Der einstmals vielzitierte und kommentierte Text lautet wie folgt:
aaaaaaaaaaaaaaEin Gedicht
Ein Gedicht, aus Worten gemacht.
Wo kommen die Worte her?
Aus den Fugen wie Asseln,
Aus dem Maistrauch wie Blüten,
Aus dem Feuer wie Pfiffe,
Was mir zufällt, nehm ich,
Es zu kämmen gegen den Strich,
Es zu paaren widernatürlich,
Es nackt zu scheren,
In Lauge zu waschen
Mein Wort
Meine Taube, mein Fremdling,
Von den Lippen zerrissen,
Vom Atem gestoßen,
In den Flugsand geschrieben
Mit seinesgleichen
Mit seinesungleichen
Zeile für Zeile,
Meine eigene Wüste
Zeile für Zeile
Mein Paradies.
«Ein Gedicht», das heisst hier mein Gedicht («mein Wort»), heisst aber auch – eins von beliebig vielen Gedichten («mit seinesgleichen | mit seinesungleichen»); die Autorin imaginiert es der Reihe nach mit «Asseln», «Blüten», «Pfiffen», mit einer «Taube», einem «Fremdling», schliesslich mit der «Wüste», dem «Paradies».
Dass ein Gedicht – jedes Gedicht – «aus Worten gemacht» ist, wird gleich eingangs klargestellt, klar aber auch, dass alle Worte gleichermassen ins Gedicht eingehen können, egal, welcher Herkunft («Fugen», «Feuer» usf.) und welcher Qualität sie sind. Bemerkenswert ist hier der Hinweis, dass die Worte nicht gezielt zusammengesucht und eingesetzt, sondern gleichsam vom Zufall diktiert werden: «Was mir zufällt, nehm ich …» Autorschaft ist demnach nicht, wie üblicherweise angenommen, Sprachherrschaft, vielmehr ist es die Sprache als solche, die sich eigengesetzlich zum Gedicht formiert.
Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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