Elitär und populär
Rainer Maria Rilkes ambivalente Poetik
Teil 1 siehe hier …
Rilkes Weg von den frühen Gedichten zu den späten Elegien und Sonetten, vom «Larenopfer» und «Marien-Leben» zu den Requiems, führt ungebrochen durch die Niederungen der Trivialität und des emotionalen Überschwangs hin zu den dunklen Gipfeln höchster Sprachkunst: «Einsam steigt er [der ‘tragende Strom’] dahin in die Berge des Ur-Leids», so heisst es in der Zehnten Elegie: «Und nicht einmal sein Schritt klingt aus dem tonlosen Los.» Ob und wie man’s versteht, ist hier – wie anderswo bei Rilke – weniger wichtig als die Übernahme einer Stimmung, die sich an dieser Stelle aus vager Einsamkeit und unbestimmtem Leid zum Schicksal verdichtet, andernorts vielleicht aus positiven Vorgaben zu Seligkeit, Begeisterung, Rausch. – Man lese «Die Liebenden»:
Sieh, wie sie zueinander erwachsen:
in ihren Adern wird alles Geist.
Ihre Gestalten beben wie Achsen,
um die es heiß und hinreißend kreist.
Dürstende, und sie bekommen zu trinken,
Wache und sieh: sie bekommen zu sehn.
Laß sie ineinander sinken,
um einander zu überstehn.
Auf einzigartige Weise verbinden sich in diesem Liebesgedicht gängige Klischeevorstellungen («Dürstende, und sie bekommen zu trinken …») und lauter mechanische Reimpaarungen mit einer durchaus ungewöhnlichen Funktionsbestimmung der Liebe, zu der die Liebenden «erwachsen», in der sie sich vereinigen, nicht aber um überein zu kommen, vielmehr um sich wechselseitig irgendwie zumindest auszuhalten: Liebe als Konvention, als Selbsterhaltung, als Konfliktmanagement, und keine Rede von ewigem Glück.
… Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
Schreibe einen Kommentar