Elitär und populär
Rainer Maria Rilkes ambivalente Poetik
Teil 3 siehe hier …
In seinen frühen Notizen «Zur Melodie der Dinge» bezeichnet Rilke die Kunst insgesamt «als die weitere, unbescheidenere Liebe», und er scheut sich nicht, sie mit der «Liebe Gottes» gleichzusetzen. Eine zweifelhafte Verallgemeinerung, zugleich ein anmassendes Postulat, ebenso leicht zu verwerfen wie anzunehmen, es fortzudenken und anzuwenden. – Ist denn also Rilkes nie aufgelöster Synkretismus von Religion und Künstlertum letztlich bloss ein Kompromiss, bewerkstelligt mit dem Ziel, einen möglichst breiten Kreis von Gläubigen, Gutmeinenden, Demütigen anzusprechen, die stets auch Unverstandenes zu akzeptieren bereit und an kritischer Lektüre desinteressiert sind?
In einer diesbezüglichen Erklärung, die den Sachverhalt eher verdunkelt denn erhellt, hebt Rilke die allgemeinmenschliche Mission jeglicher Kunst hervor – das Gedicht (wie Kunst generell) soll nicht den Einzelnen in abgehobener Diktion ansprechen, sie soll vielmehr für alle, jedenfalls für möglichst viele eine passende Gabe bereithalten: «Die Kunst darf nicht bei dem Einzelnen stehen bleiben, der nur die Pforte des Lebens ist. Sie muss ihn durchwandern. Sie darf nicht müde werden. Um sich zu erfüllen muss sie dort wirken, wo Alle – Einer sind. Wenn sie dann diesen Einen beschenkt, kommt grenzenloser Reichtum über Alle.»
Sätze wie diese entziehen sich vernünftiger Befragung; man mag sie als esoterisches Räsonieren abtun, kann sie aber in ihrer Vagheit auch einfach als Glaubenssätze stehen lassen. Aus dieser Ambivalenz speist sich das andauernde Faszinosum von Rilkes dichterischem Werk.
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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