Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Form- oder Sinngebung? (Teil 2)

Form- oder Sinngebung?
Vom Überdauern moderner Dichtung

Teil 1 siehe hier

Die kalkulierte und kodierte Schreibweise der einstigen europäischen Avantgarde hat die Literatur als Formkunst ruckartig («revolutionär») vorangebracht, sie hat neue Weisen der Produktion wie der Rezeption eingespurt, musste dabei jedoch naturgemäss ein Defizit an Bedeutung (Aussagekraft) hinnehmen beziehungsweise Bedeutung zu Gunsten visueller oder akustischer Darbietung minimieren.
Bemerkenswert ist nun aber die wiederkehrende Erfahrung, dass ein Leseinteresse an solch formalistischer Dichtung kaum noch aufkommt; dass im Gegenteil entsprechende Texte von Hausmann, Stramm, Chlebnikow, Tzara u.a.m. heute tatsächlich als sinnleere Wortakrobatik wahrgenommen werden, während andrerseits aussagestarke, formal weniger angestrengte Poesie aus jener Pionierzeit (etwa Trakl, Rilke, Montale, Mandelstam) mit stetig sich erneuerndem Gewinn gelesen werden.
Erstaunlich daran bleibt die Tatsache, dass die unverrückbar vorgegebene Sprachform der Dichtung in der Überlieferung offenkundig weniger resistent ist als deren wandelbarer Bedeutungsgehalt. Dieser kann bei hinreichender Substanz immer wieder anders aufgenommen, immer wieder neu interpretiert werden und somit auch lang andauernde Aktualität bewahren. Beispielshalber vergleiche man Rainer Maria Rilkes Elegien oder seine «Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge» mit Filippo Tommaso Marinettis «Parole in libertà».

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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