Form- oder Sinngebung?
Vom Überdauern moderner Dichtung
Teil 2 siehe hier …
Was ist zu gewinnen beim Wiederlesen von Marinettis futuristischen Schaugedichten, von Chlebnikows «Tafeln des Schicksals» oder der «Ursonate» von Schwitters? Man kann die Texte zu enträtseln suchen und dabei – entweder – immer wieder eine Teillösung finden, eine Quelle eruieren, eine Anspielung aufklären, oder man lässt sich dazu verleiten, eigene Phantasielösungen einzubringen, die wohl plausibel oder amüsant sein können, zum Verständnis und zum Überdauern des Werks jedoch nichts beitragen.
Kafka oder Platonow wiederum bedürfen der Enträtselung nicht – ihre stärksten Texte sind Rätseldichtungen, deren Unauflösbarkeit ihre Vollkommenheit ausmacht; als Rätsel genügen sie sich selbst, auf Lösungen, Deutungen sind sie nicht angewiesen, schliesst sie freilich auch nicht aus. Doch wer sie definitiv «gelöst» zu haben meint, hat sie verfehlt; denn ihre Fragwürdigkeit ist das, was zählt und gilt.
«Ich hatte keine menschliche Antwort auf das Rätsel gefunden», bekennt dementsprechend Clarice Lispector in ihrer «Passion nach G. H.» von: «Sondern mehr, ja viel mehr: Ich hatte das Rätsel selbst gefunden.»
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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