Gedenkblatt für Walter Widmer
(1903-1965)
Lehrer, Kritiker, Übersetzer
Von Beruf war Walter Widmer Gymnasiallehrer, ab 1930 bis zu seiner vorzeitigen Pensionierung unterrichtete er Deutsch und Französisch am Basler Realgymnasium. Als Schüler lernte ich ihn dort in seinen letzten Lebensjahren kennen. Allerdings sass ich nie in seiner Klasse, lernte aber nach seinem Schulbuch «Schritt für Schritt» Französisch.
Widmers Ruf als Lehrer war desolat, seinem romanistischen Doktorat zum Trotz sprach er kein Französisch; statt zu unterrichten, las er den Schülern lieber aus seinen Übersetzungen französischer Autoren vor, an denen ihm offenkundig weit mehr gelegen war als am Lehramt.
Bei den Kollegen am Gymnasium war Widmer berüchtigt und gefürchtet, wegen seiner ruppigen Umgangsformen ebenso wie wegen seiner zynischen, oft auch obszönen Redeweise.
Mir selbst haben all diese angeblichen Defekte als Qualitäten ungemein imponiert, und jahrelang bedauerte ich, nicht zu Widmers Klasse zu gehören. Ich suchte und fand dennoch persönlichen Kontakt zu ihm, zeigte ihm meine ersten Schreib- und Übersetzungsversuche. Er reagierte entschieden kritisch, ermunterte mich aber zum Weitermachen.
Täglich traf ich ihn, unterwegs zur Schule, in der Strassenbahn. Oft setzte ich mich neben ihn – er hob nicht mal den Kopf, liess meinen Gruss unbeantwortet – und ich konnte beobachten, wie er ein aufgeschlagenes Buch mit französischem Text auf den Knie hielt, leise lesend vor sich hin murmelte und gelegentlich etwas zwischen den Zeilen oder am Rand notierte. Nie habe ich ihn anders gesehen, und so war ich denn auch bald überzeugt, es tatsächlich mit einem professionellen Übersetzer zu tun zu haben.
… Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
Schreibe einen Kommentar