Gedenkblatt für Walter Widmer
(1903-1965)
Lehrer, Kritiker, Übersetzer
Teil 1 siehe hier …
Als Abiturient überreichte ich Walter Widmer einst in einer Unterrichtspause einen von mir selbst verdeutschten Text mit der Bitte um kritisches Gegenlesen. Er nahm mir die Blätter schroff aus der Hand und lud mich zu meiner Überraschung im Befehlston dazu ein, ihn am folgenden Tag um sechs Uhr in der Früh bei sich zu Hause aufzusuchen. Danach würden wir gemeinsam zur Schule fahren.
Pünktlich traf ich bei ihm ein – er wohnte nicht weit von meinem Elternhaus; er führte mich gleich in die Küche, und noch ehe wir uns setzten begann er auf mich einzuschimpfen. Ich hatte ein paar Seiten meines damaligen Lieblingsdichters Saint-John Perse übersetzt, und musste mir nun anhören, was für ein Sakrileg das sei für einen «blutigen Anfänger» wie mich: Wieso legst du dich gleich mit einem der grössten und schwierigsten Autoren an, fragte er drohend, Saint-John Perse, fügte er hinzu, das ist für später, das kannst du ganz zuletzt vielleicht einmal versuchen; doch bis dahin sei ein langer Weg und ich solle doch erstmal «ein bisschen etwas von Maupassant» ins Deutsche bringen und dann wieder bei ihm vorbeischauen.
Damit war die Sitzung beendet, Widmer schenkte mir einen tiefschwarzen Kaffee ein und schob mir die riesige Tasse über den Tisch zu. Er selbst berichtete mir dies und das über «Fug und Unfug» literarischer Übersetzung, kritisierte diesen und jenen Kollegen mit dem Hinweis, man müsse als Übersetzer nicht die Ursprungssprache, vielmehr die Zielsprache «perfekt beherrschen». Damit rechtfertigte er wohl seine eigene übersetzerische Arbeit – fast ausschliesslich Nachübersetzungen (etwa von Rabelais, Villon, Stendhal, Flaubert, Balzac), mit denen er stilistisch brillierte, die Originaltexte jedoch arg strapazierte. Ich meinerseits übersetzte in der Folge die Erzählung «Auf dem Wasser» von Guy de Maupassant, Widmer mochte sie ebenso wenig begutachten wie den «Crusoe» von Saint-John Perse, ja, ich habe nie erfahren, ob er meine damaligen Übersetzungsversuche auch nur zur Kenntnis genommen hat – ein Gespräch darüber gab es jedenfalls nie.
… Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
Schreibe einen Kommentar