Gedichte als Fremdgänger
Vom Wiederlesen eigener Texte
Teil 4 siehe hier …
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Damit stellt sich um so dringlicher die Frage nach dem Verstehen, und die Frage nach dem Verstehen ist üblicherweise identisch mit der Frage nach dem korrekten Verstehen, wobei – wiederum üblicherweise – davon ausgegangen wird, dass korrektes Verstehen dann erreicht ist, wenn begriffen wurde, was der Autor, die Autorin hat «sagen wollen», also gemeint hat.
Doch solches Verständnis reicht für die Interpretation dichterischer (lyrischer wie erzählerischer) Texte nicht aus. Die Lektüre derartiger Texte ist ja keineswegs ein bloss kommunikativer Prozess, der mit dem Verstanden-haben zu seinem Ende kommt, vielmehr eine fluktuierende Annäherung in Fort- und Rück- und Seitenschritten, wozu durchaus auch Fehltritte gehören.
Zu Unrecht sind Fehlinterpretationen, herbeigeführt durch irriges oder defizitäres Verstehen, noch immer weithin verpönt. Statt korrektes Verstehen einzufordern und es, wo’s vermeintlich gelingt, zu belobigen, sollte doch mit nicht minderem Interesse ergründet werden, was es mit dem Missverstehen und dem Nicht-Verstehen auf sich hat. Allein die Tatsache, dass schon manche Autoren freimütig bekannt haben, ihre eigenen Texte nicht oder bloss der Spur nach zu verstehen, wäre dafür Anlass genug. Man braucht ja nicht gleich so weit zu gehen wie jene radikalen Modernisten im Umkreis und in der Nachfolge Stéphane Mallarmés, die «verständliche» Gedichte beziehungsweise das «Verstehen» von Gedichten für eine «Schande» hielten. Die «Schwierigkeit» des Verstehens, einst Merkmal dichterischer Qualität, gilt bekanntlich heute als unzumutbar, wenn nicht als schikanös.
Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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