Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Gericht über Gedichte

Gericht über Gedichte

 

In ihren letzten Lebensjahren arbeitete die russische Sprach- und Bildkünstlerin Anna Altschuk (1955-2008) im Berliner Exil an einem Filmprojekt, das dokumentieren sollte, wie Menschen Gedichte verstehen. Geplant war die Befragung von Kindern, zufälligen Passanten, Gelegenheitslyrikern, aber auch von Literaturkritikern und Linguisten in der Absicht, „delikat, unaufdringlich und mit Humor“ aufzuzeigen, was Lyrik ist, und mehr als das – was starke und was schwache Lyrik ist. Das Projekt blieb unausgeführt.
Doch von seinem damaligen Ansatz her könnte auch heute noch die eine oder andre Frage dazu von Interesse sein.
Liesse sich denn überhaupt bildhaft vorführen, wie Gedichte zu verstehen sind und wie sie verstanden werden? Dafür würde doch auch ein Interview – ob mündlich oder in Schriftform – genügen; oder eine Recherche mit Befragungen und Ergebnisanalyse. Wozu ein Film? Da doch das Wie des Verstehens weder gestisch noch mimisch wiedergegeben werden kann. (Anders beim Ob des Verstehens: Da genügt ein Nicken, um es zu bezeugen, ein Kopfschütteln, um es zu verneinen.) Aber wie ich verstehe, kann ich nicht zeigen, ich kann es bestenfalls in Worten erläutern. Folglich lässt es sich optisch auch nicht veranschaulichen.
Gleichwohl war Anna Altschuks Anliegen eben dies – im Film, in bewegten Bildern zu vergegenwärtigen, «was Lyrik ist», ausgehend davon, wie Lyrik gemeinhin verstanden wird. Seltsames Unterfangen. Denn das Gedicht ist ja nicht davon abhängig, wie oder ob es verstanden wird; es steht Schwarz auf Weiss da als das, was es ist, und nicht als das, was es bedeutet.
Die Künstlerin ist über dem Projekt gestorben, hat den Freitod gewählt. Gern hätte man sie zum Anlass und zur Zielsetzung ihrer filmischen Lyriklektion befragt. Klar ist nur – sie hat viel in das Projekt investiert, hat sich manche Gedanken und Notizen dazu gemacht, um schliesslich wohl einzusehen, dass seine Verwirklichung nicht möglich und auch nicht notwendig ist.
Wie jedoch konnte sie darauf kommen, das offenkundig Unmögliche zu wollen?

 

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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