Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Jan Vladislav

Jan Vladislav

Kleines Medaillon zum 100. Geburtstag

 

Der tschechische Dichter, Übersetzer und Publizist Jan Vladislav (1923-2009) wäre im vergangenen Januar 100 Jahre alt geworden. Schon als 17-Jähriger übersetzte er Petrarcas Sonette, in der Folge brachte er Lyrik aus neun Sprachen ins Tschechische – insgesamt ein bemerkenswertes Corpus der Weltpoesie. Er selbst edierte zwischen 1946 und 1990 ein halbes Dutzend Gedichtbücher maschinenschriftlich im Selbstverlag; sie konnten erst 1991 als Sammelwerk in Prag erscheinen.
Vladislav hat nach dem Zweiten Weltkrieg in Prag und Grenoble Komparatistik studiert, wurde aber aus politischen Gründen erst 1968 zur Promotion zugelassen. Die im selben Jahr erfolgte Besetzung der ČSSR durch Truppen des Warschauer Pakts hinderte ihn an einer wissenschaftlichen wie auch an einer literarischen Karriere. Die Chefredaktion der renommierten Zeitschrift «Světová Literatura» (Weltliteratur) musste er nach kurzer Zeit wieder abgeben. Derweil engagierte er sich nachhaltig für den intellektuellen Widerstand gegen die Okkupanten und deren repressive «Normalisierungs»-Politik.
Unter seiner Schriftleitung erschienen in der Folge weit über einhundert Bände der damals illegalen Edition «Kvart», mit literarischen, philosophischen und politischen Texten, die aus Zensurgründen offiziell nicht veröffentlicht werden konnten. 1976/1977 gehörte Vladislav zu den Erstunterzeichnern der Charta-77, 1981 wurde er ausgebürgert und lebte danach bis 1993 in Frankreich. Nach seiner Rückkehr in die Tschechei ist dort sein umfangreiches Werk – darunter seine Tagebücher – erstmals gesamthaft im Druck erschienen. 1998 erhielt er den Preis des Tschechischen PEN für sein Lebenswerk, 2001 den Staatspreis für literarische Übersetzung. 2009 starb Jan Vladislav 86-jährig in Prag.

 

Jan Vladislav

Ein lebtag

Für sich allein
sich ankleiden
für sich allein
sich im spiegel betrachten
für sich allein
die treppe runter
für sich allein.

Für sich allein
auf die strassenbahn warten
für sich allein
eine zeitung kaufen
für sich allein
durchs gedränge gehn
für sich allein.

Für sich allein
denen zusehn die am fluss spazieren
für sich allein
zusehn wie die nacht einfällt und fällt und fällt
für sich allein
dastehn nur einfach so an einer ecke
für sich allein.

Für sich allein
durchs gedränge gehn das sich nun lichtet
für sich allein
auf die strassenbahn warten
für sich allein
eine zeitung kaufen
für sich allein
ins dunkel gehn das sich verdichtet
für sich allein.

Für sich allein
zur treppe hinausgehn
für sich allein
zur tür hineingehn
für sich allein
sich im spiegel betrachten
für sich allein
sich entkleiden
für sich selbst.

(aus dem Band Věty, Edition PmD, München 1981; deutsch von Felix Philipp Ingold)

 

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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