Kalenderlyrik
Ich mag keine Wandkalender; ich mag nicht künftige und vergangene Tage, Wochen, Monate auf- und abgezählt vor Augen haben.
Dennoch habe ich mir neulich zum ersten Mal einen derartigen Kalender zugelegt – zufällig entdeckt im Wühlkasten einer Papeterie, zusammen mit vielen andern unverkauften Kalendern für das laufende Jahr.
Wer greift schon auf solche Ware zurück? Ich tat’s.
Der Kalender interessierte mich zunächst nur als Objekt: Locker gerollt in einem Gummiband, grossformatiges weiches Papier, gebündelt durch eine Metallspirale, so dass man die Seiten in beide Richtungen wenden kann; zum Aufhängen dient eine in die Spirale integrierte Lasche. Die Verkäuferin erläutert: «Ein ewiger Kalender! Gehört eigentlich ja nicht in den Ramsch.»
Beim Öffnen der Rolle stellt sich heraus, dass das Konvolut insgesamt 39 Blätter umfasst, jede Seite in unterschiedlicher Grossschrift bedruckt mit einem Text.
Zu einem Kalender passt die Zahl 39 eher nicht. Da müsste ich mir schon selbst ein Jahr mit 39 Wochen oder Monaten zurechtdenken, allenfalls einen Monat mit 39 Tagen. Was andrerseits bei einem «ewigen» Kalender keine Rolle spielen sollte.
Im Übrigen hat der Kalender kein Titel- oder Deckblatt, das Impressum nennt einen «Postverlag» als Herausgeber, die abgedruckten Texte – ich qualifiziere sie als Gedichte – sind durchweg titellos, unsigniert. Folglich handelt es sich hier keineswegs um einen «Kalender», auch nicht um einen «ewigen», sondern schlicht um einen Gedichtband mit unbestimmter Autorschaft.
Anonymität ist im künstlerischen Bezirk verpönt. Texte – vorab Gedichte – ohne auktoriale Zuschreibung haben in aller Regel keine Chance, publiziert, besprochen oder gar mit einem Literaturpreis ausgezeichnet zu werden. Das Publikumsinteresse gehört gemeinhin dem Autor, nicht dem Werk.
Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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