Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Kehraus mit Celan (Teil 12)

Kehraus mit Celan
Eine revisionistische Lektüre

Teil 11 siehe hier

Paul Celans Vertrauen in seine Leserschaft muss gross gewesen sein – lauter verlässliche, gutgläubige Gesprächspartner, die sich ohne Vorbehalte auf seine Gedichte einlassen und bestenfalls mit Fragen darauf antworten, Fragen nicht an den Autor, Fragen an sich selbst.
Um so bemerkenswerter ist die Tatsache, dass er auch in dunkelsten Texten häufig ein Du anspricht. Diese zweite Person (der Andere) wird nie beim Namen genannt, jedermann kann gemeint sein, möglich ist aber auch die Adressierung an eine reale Person, die anonym bleiben soll und für Aussenstehende nicht zu identifizieren ist, möglich sogar, dass der Dichter sich selbst zum Gesprächspartner macht und damit zum Gegenüber in einem monologisch geführten Dialog. In einzelnen Fällen kann auch ein Gegenstand, ein Wort, ein Abstraktum als Du angerufen werden.

Ich kenne dein Höher.
Ich höhere dich, Erkenntnis.

Sie brüllen dir Schlaf zu:
also
kommt Luft
durch die Garotte.

Ein Präfekt
steht sich Verordnungen ab,
ein Gott
Mitgötterisches,

aber einmal
sah Gleichkönigliches
Gratspur und Spurgrat.

Zwar wird ein Du in diesem Text nicht explizit adressiert, aber doch pronominal («dein», «dich», «dir») vergegenwärtigt. In der Subjektposition treten auf: «ich», «sie» (dritte Person Mehrzahl als anonymes Kollektiv), «Luft», «Präfekt», «Gott» und «Gleichkönigliches» – ausser der «Luft» ist nichts, niemand wirklich fassbar – ob «ich» oder «Gleichkönigliches» (oder was auch sonst), es bleibt der «Erkenntnis» entrückt, ungeachtet dessen, dass Celan gewisse Präzisierungen beibringt:  die Luft kommt «durch die Garotte», der Präfekt «steht sich Verordnungen ab» (?), und Gleichgöttliches hat schon einmal «Gratspur und Spurgrat» gesehen … Doch zu genauerem Verständnis gelangt man dadurch nicht, eher umgekehrt – der hier jeweils angedeutete Kontext erhöht in jedem der Fälle die Verwirrung und beeinträchtigt mithin das Verständnis erst recht. «Gratspur» oder «Spurgrat»? Egal – das Wortspiel genügt sich selbst, Aussage und Bedeutung sind entbehrlich. Celan lässt das Gedicht verlauten, einzig im Sprachklang behauptet es sich.
Doch das Klingen und Verklingen setzt geeignetes Sprachmaterial voraus, sei es vorgegeben vom Wörterbuch oder eigens vom Autor ausgearbeitet in Form von innovativen bildstarken Metaphern sowie einer Vielzahl von alogischen, absurden, paradoxen Wendungen, die nichts direkt besagen, aber manches – Unterschiedliches, auch Widersprüchliches – andeuten sollen; Wortfügungen wie diese: «töpfernde Geilheit», «unter |Nadeln verzwergte | Verzweiflung», «hinauf | ins Vielleicht einer Sprache gespannt», «Namenwüchsige ober- | halb des Drahts | und Gekriechs und Geschiebes», «da stehst du, ein Stein, der | hat dich, wie er sich hat», «aber wer über die Linie | götzt, | den sperrt die Gewissenspranke | in seine Faust», «jetzt geht dem Gegoldeten einiges Nichts auf», «am Indifferenzpunkt| der Reflexion || sprach der Bitterplanet| Übergenaues», «Übermeister, | du unterst | nach oben», «und wie die Gewalt | entwaltet, um | zu wirken», «es kann auch sein, | dass sein kann», «aber, da’s allenthalb knechtet, | könige ich, | komm». Usf.

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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