Kehraus mit Celan
Eine revisionistische Lektüre
Teil 12 siehe hier …
Die Beispielreihe liesse sich beliebig fortsetzen – so gut wie jedes Gedicht von Celan hält derartige Wendungen bereit, manche bestehen ausschliesslich aus «lautenden» Strophen, die ebenso nichtssagend wie vieldeutig sind. Jedenfalls ist bei diesem Autor oft nicht auszumachen, ob er Tiefsinn oder Unsinn zum Besten gibt; so auch in diesem schwerlich fassbaren, dennoch unheimlich anmutenden Text aus der besonders produktiven Sommersaison 1968:
Dehngrenze: hier will der Schaffner
den Gelbstern sehn. Haut-Heute, seifig.
Doch kommt, kristallischer als
Gedächtnis,
der Trinkarzt. Schlürf ihn herunter.
Auch beginnen die Lärchen. In der
Staudamnis.
Mit Wassertinte
kümmern die scheinbaren Grüsse,
Französisch, ich sprach es so gut,
besserte endlich an sich.
Aber was wars denn als
Halbkleines? Es entfernte sich
nicht so weit,
dass es nah kam.
Zwar verweist der «Gelbstern» zu Beginn des Gedichts konkret auf die Judenverfolgung im Dritten Reich, doch mit keinem andern Wort wird dieser Bezug in der Folge bestätigt oder kontextualisiert, es sei denn, man bringe «seifig» (zu «Verseifung») und «kristallisch» (zu «Kristallnacht») mit dem militanten Antisemitismus des NS-Staates in Verbindung. Sonst aber ist hier von gänzlich andern Dingen die Rede – von einem «Trinkarzt», der «heruntergeschlürft» (?) werden soll, von Lärchen, die «auch beginnen» (?), von einer unbestimmten, unbestimmbaren «Staudammnis» (?), von «scheinbaren Grüssen», die «kümmern» (?), vom lyrischen Ich, das «so gut» Französisch sprach und das «besserte endlich an sich» (?), von einem «Haut-Heute» (?), das deutsch wie französisch («haut» für «hoch») zu lesen ist, schliesslich von einem «Halbkleinen» (?), das sich «nicht so weit» entfernte, «dass es nah kam». Wer sich hier um Verständnis bemüht, mag sich düpiert fühlen, könnte sich aber auch auf das Faszinosum geheimnisvoller Dunkelheit einlassen – beides ist bei der Celanlektüre gang und gäbe.
Der Doppelbegriff «Haut-Heute» steht für Paul Celans Vorliebe für die Assoziation lautähnlicher Ausdrücke, zu denen auch der Reim gehört. Solche Ausdrücke können inhaltliche Übereinstimmungen bekräftigen («die Einsamkeit sammelt»), sie können aber auch, bei Celan weit häufiger, Differenzen hervorheben («unbotmässig der Bote»).
… Fortsetzung am 14.9.2024 …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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