Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Kehraus mit Celan (Teil 5)

Kehraus mit Celan
Eine revisionistische Lektüre

Teil 4 siehe hier

«… geh mit der Kunst in deine allereigenste Enge. Und setze dich frei.» So lautet ein weiterer Kernsatz in Celans Preisrede, der auch als Kernsatz seiner Poetik gelten kann. Dichtung, so aufgefasst, wird als Gang in die freiwillige Gefangenschaft praktiziert, in die Konfrontation des Dichters mit sich selbst, in ein Abseits von jeglicher Norm und Konvention – allein auf diesem Weg ist Freiheit zu gewinnen, Freiheit von und für sich selbst. Dieser radikalen Einzelgängerei zum Trotz postuliert Celan das Gedicht als Gesprächsangebot an einen jeweils Andern, verleiht ihm damit eine dialogische Dimension, in der Frage und Anruf jeder bündigen Antwort vorgeordnet sind oder gar selbst zu einer impliziten Antwort mutieren können: «Das Gedicht will zu einem Andern, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu.»
Doch der Dialog bleibt ungenutzt, und tatsächlich kann der Leser, die Leserin gegenüber dem Gedicht wie dem Dichter kein Gesprächspartner sein, denn wer liest, mag sich zwar angesprochen fühlen, ist aber nicht wirklich in ein Gespräch eingebunden und kann auf den Anruf oder die Anfrage des Autors nicht direkt reagieren. Nicht anders als der Schreibende ist auch der Lesende auf die «allereigenste Enge» verwiesen und hat sich darin zu behaupten, indem er sich aus ihr befreit.
Dass sich Celan der Unhaltbarkeit dieser Gesprächssituation bewusst war, gibt er seinerseits zu erkennen, indem er den angeblichen Dialog als verkappten Monolog ausweist, das Gedicht als einen «Umweg von mir zu mir»; dazu erläutert er: «Dann wäre das Gedicht – deutlicher noch als bisher – gestaltgewordene Sprache eines Einzelnen, – und seinem innersten Wesen nach Gegenwart und Präsenz.» Woraus folgt: «Das Gedicht ist einsam. Es ist einsam und unterwegs. Wer es schreibt, bleibt ihm mitgegeben.»
Es bleibt lediglich der Glaube (oder wenigstens die Hoffnung), dass die Unmöglichkeit des Gedichts als Gesprächsort nicht die Möglichkeit einer «Begegnung» mit ihm ausschliesst, genauer nun: einer Begegnung, die einzig «im Geheimnis» stattfinden kann, weil sie selbst ein Geheimnis ist. «Vielleicht», so heisst es weiter in Celans Redetext, « – vielleicht geht die Dichtung, wie die Kunst, mit einem selbstvergessenen Ich zu jenem Unheimlichen und Fremden, und setzt sich – doch wo? doch an welchem Ort? doch womit? doch als was? – wieder frei?» Die Fragen müssen als Antwort genügen; denn: „Wir / wissen ja nicht, weißt du, / wir / wissen ja nicht, / was / gilt.“ Die letzten Zeilen aus dem Gedicht „Zürich, Zum Storchen“ (1960) sind skeptische Bestätigung dafür.

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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