Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Kehraus mit Celan (Teil 8)

Kehraus mit Celan
Eine revisionistische Lektüre

Teil 7 siehe hier

Was der Autor hat «sagen» wollen, möchte man allerdings ganz gern dort erfahren, wo er das Gedicht bei vorherrschender Dunkelheit – zumindest der Intonation nach – auf eine gewisse Stimmung festlegt. Dass Celan ausser der pathetischen (wenn nicht prophetischen) Rede oft auch die der Polemik praktizierte, ist durch manche seiner Privatbriefe belegt, wird aber auch von Zeitgenossen bestätigt, die entsprechende mündliche Äusserungen von ihm überliefern – offenbar tendierte er dazu, politisch oder literarisch Andersdenkende als bedrohliche Widersacher zu qualifizieren und sie mit Wut und Verachtung abzustrafen. Wie souverän er dies auch in verdunkelter Dichterrede zum Ausdruck brachte, zeigen beispielshalber die nachfolgenden titellosen Strophen vom Sommer 1968.

Sie haben dich alle gelesen, jetzt tinten
sie dran,
jetzt schröpfen sie ihr
Feme-Pardon, bei Neonruch,
und zerstäubens:
das nennen sie Welt,

davon galgts in den Happening-Harfen,
Schaufenster munkeln,
Zufälle kunkeln –

welch ein Reim, gassatim,

jetzt kann der Reimlose hoch
hinaufstehn
in sich.

Alles und nichts
füllt nichts und alles,

draussen, inmitten,
verlässt der Herr seine Leere, erkenns.

Niemand wird hier explizit als Kontrahent genannt, kein Vorwurf wird konkretisiert, kein zeitgeschichtlicher oder thematischer Kontext angedeutet – alles bleibt in rhetorischer Schwebe, und doch lässt die Lektüre des Gedichts unabweisbar den forcierten Ton einer kompromisslosen Abrechnung aufkommen.
Mit viel poetischem Aufwand entlarvt Celan in diesen Versen eine ihm verhasste Gegnerschaft, und zugleich verschleiert er sie. «Sie» – dritte Person Mehrzahl – steht für ein anonymes Man, das von einem ebenfalls anonymen Du (das hier das lyrische Ich vertritt)  einer erbarmungslosen kollektiven Anklage ausgesetzt wird. Doch auch der Gegenstand dieser Anklage bleibt ungenannt, wird lediglich in vager Umschreibung angedeutet. Gleich in der Eingangsstrophe ist von «schröpfen» und «zerstäuben» die Rede, von «Feme-Pardon» und «Neonruch» – lauter Begriffe mit negativer Konnotation, nicht anders als das kuriose Verb «tinten», das wohl einfach «schreiben» bedeuten soll, in diesem Fall als bösartiges Vergiessen von Tinte, d.h. als Verleumdung oder als Attacke aufzufassen: Alle haben «Dich» (also mich, Celan) «gelesen», und alle verunglimpfen «Dich» nun für das, was «Du» geschrieben hast.
Die nachfolgenden Verse bestätigen Celans lyrische Aggressivität, halten sie aber weiterhin bedeckt durch befremdliche Wortwahl (wie «galgts», zu «Galgen») und poetischen Zierat, vorzugsweise bewerkstelligt durch Stab- und Binnenreime: «Happening-Harfen», «verlässt der Herr seine Leere», «Schaufenster munkeln, | Zufälle kunkeln», oder auch eine unbedarfte Formel wie «alles und nichts | füllt nichts und alles».
Das mag dichterisch intendiert sein, starke Dichtung ist es nicht.

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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