Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Kehraus mit Celan (Teil 9)

Kehraus mit Celan
Eine revisionistische Lektüre

Teil 8 siehe hier

Dies gilt gleichermassen für einen andern, zur selben Zeit entstandenen quasipolemischen Text, der mit gefälligen Assonanzen aufwartet («unbotmässig | der Bote», «buhlen die Scheinbullen», «-schränkt, | grenzt»), um vordergründige, jedoch verschwiegene oder verdrängte Fakten hintergründig aufscheinen zu lassen:

Komm ich dir hinter die Schliche?
Du fabelst.

Obligat
ist die Freiheit,

unbotmässig
der Bote,

buhlen die Scheinbullen,
scharen sich die
Aufständisch-Hymnischen,

entschränkt,
grenzt der Gesinnte.

Ein einziger, definitorisch formulierter Aussagesatz («Obligat | ist die Freiheit») ist dem sonst kaum verständlichen Gedicht zu entnehmen, doch auch dieser Satz bleibt, da ein stützender Kontext fehlt, eher unbestimmt und provoziert zur Frage, in welchem Sinn und zu welchem Zweck und für wen denn überhaupt «die Freiheit» ein Obligatorium sein sollte? Oder ist womöglich der Schutz der Freiheit gemeint, ihre Verteidigung? – dies angesichts eines unbotmässigen Boten und buhlender Scheinbullen, unter deren Einfluss «die Aufständisch-Hymnischen» sich zusammentun! Die beiden letzten Verse parallelisieren einen begrifflichen Gegensatz («entschränkt, | grenzt»), dessen Funktion und Bedeutung ebenso uneinsichtig ist wie die Schlussfigur des «Gesinnten».
Solch «dunkle» Unbestimmtheiten finden sich in den meisten Gedichten von Paul Celan, und sie bewirken – ob gewollt oder ungewollt – den zwiespältigen (simultanen) Eindruck von Vieldeutigkeit und Bedeutungsleere. Dunkelheit, Unbestimmtheit dominieren, mehr oder minder ausgeprägt, sein gesamtes lyrisches Werk. Erreicht wird diese besondere Qualität, die sich bisweilen auch als künstlerische Schwäche offenbart, durch ein paar wenige, stetig wiederholte rhetorische und poetische Verfahren, von denen ich einige weiter oben bereits genannt habe. Wie Celan dabei vorgeht und welche Mittel er zusätzlich dafür nutzt, will ich hier anhand entsprechender Zitate aus seinen nachgelassenen Gedichten präzisieren und aufmerksam machen darauf, wie und wo angestrengter Tiefsinn zu unverbindlicher Beliebigkeit mutiert.

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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