Kuhlbrodts Gedicht
Thesen, Gegenthesen, Fragezeichen
Teil 2 siehe hier …
Sieben weitere «Thesen» formuliert Jan Kuhlbrodt mit Blick auf Gedichte und deren «Verständnis». – These eins: «Es gibt keine unverständlichen Gedichte.» Nachgedoppelt: «Kein einziges.» Doch auch unverständliche Gedichte sind Gedichte, will implizit heissen: Es gibt weit mehr Gedichte als bloss die verständlichen, und es stellt sich die Frage: Weshalb und wozu braucht ein Gedicht Verständnis? Ein Gedicht kann auch ohne Verständnis wahrgenommen werden, «wahr» als Sprach-, als Klangereignis. Das Verständnis – immer nur eine von vielen möglichen Verstehensweisen – kommt allenfalls (aber nicht notwendigerweise) hinterher. These zwei und vier entsprechen einander: «Das Gedicht liegt vor, wie es ist; da ist nichts zu machen.» Und: «Jedes Gedicht ist konkret.»
Das sind pleonastische, dabei fast schon triviale Aussagen. Dennoch kann man sie nicht häufig genug wiederholen: Das Gedicht ist das, was Schwarz auf Weiss dasteht; was für sich steht; was der Leserin, dem Kritiker zur Verfügung steht. Was hinter dem Text oder zwischen den Zeilen steht, kann allenfalls recherchiert und geklärt werden, ist für das Gedicht als solches aber nicht relevant. Relevant ist, was die individuelle, die selbstbewusste und eigensinnige Lektüre erbringt, unabhängig von biographischem oder literarhistorischem Hintergrundwissen. «Verstehen setzt Bildung nicht voraus», meint Kuhlbrodt, «sondern ist Bildung.»
In schlichtestem Verständnis ist tatsächlich jedes Gedicht «konkret» – die fast schon vergessene Poetik der «Konkreten» (Rühm, Bremer, Mon, Gomringer, Ulrichs u.a.m.), die in den 1950er/1970er Jahren eine bemerkenswerte Konjunktur hatten, war programmatisch darauf angelegt, eben das Konkrete der Dichtung – ihre visuelle und akustische Wahrnehmbarkeit – herauszustellen und damit die übliche Frage nach «inhaltlicher» Bedeutung abzuweisen.
… Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
Schreibe einen Kommentar