Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Leid und Lied (Teil 3)

Leid und Lied

Teil 2 siehe hier

Klar ist: Pathologien, Laster, Verbrechen sind «spannender» als private oder soziale Normalität; auch sind sie literarisch viel leichter aufzuarbeiten als das gewöhnliche unaufgeregte Leben. Alltägliches, Geläufiges adäquat zu beschreiben, gehört zum Schwierigsten und ist naturgemäss auf Leserseite von Langeweile bedroht.
Auch wenn erlittenes Elend seit jeher manche Schriftstellervita schwer belastet hat und in zahllosen Werken so oder anders zur Sprache gebracht worden ist, gibt es doch viele Schreibende, die ihr «Leid» von ihrem «Lied» klar getrennt hielten, Literatur also von der schlechten Alltäglichkeit abhoben, statt das Unheil wortreich darzustellen. – Ein starkes Beispiel dafür ist der Dichter Ossip Mandelstam, der von chronischem Asthma geplagt und über viele Jahre hin geheimpolizeilich überwacht, verfolgt, verbannt war, dies jedoch nicht vordergründig thematisiert, sondern weitgehend aus seinen Texten herausgehalten oder es bloss unterschwellig miteinbezogen hat. Den zeitgeschichtlichen Horror wie auch private Gebrechen und Bedrängnisse überblendete er in seinen Texten mit einem poetischen Weltbild von mediterraner Helle und Leichtigkeit, das ihm bei höchstem Kunstanspruch zu einer autonomen Gegenwelt geriet, zu einer utopischen Lichtung inmitten des Grossen Terrors.

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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