Lesen, was dasteht
Teil 1 siehe hier …
In Literaturkreisen hat Jean Gebser keine nachhaltigen Spuren hinterlassen. Zwar gibt es von ihm Arbeiten über Rilke und Lorca, und ein schmales Kapitel generell über «Dichtung» ist in «Ursprung und Gegenwart» eingegangen, doch offenbar haben sich weder praktizierende Autoren noch Literaturkritiker oder -theoretiker jemals bei diesen Texten aufgehalten. Gebser hat die künstlerische Literatur (die Lyrik in erster Instanz) als «Geschichtsschreibung des Datenlosen» begreifen wollen, «also dessen, was, wären die Dichter nicht, ungreifbares Ereignis bliebe, dafür sind die grossen unter ihnen sichtbares Beispiel».
Die «Grossen», das sind im Nachgang zu Hölderlin und Leopardi (gemäss «Ursprung und Gegenwart») – Mallarmé, Valéry, Eliot, Rilke, Guillén, Lorca, lauter Autoren, denen es nicht mehr auf die Beherrschung der Sprache, sondern auf deren Befreiung ankam. Befreiung wovon? Von «Raum-Zeit-Gebundenheit» als Voraussetzung für «die Geburt der aperspektivischen Sprache, die der neuen Bewusstseinsstruktur Ausdruck zu leihen vermag».
Den genannten und auch andern «grossen» Autoren geht es nach Gebser nicht mehr um das Gedicht als Gedanken- oder Stimmungsträger, vielmehr um die Dichtersprache als solche, die in ihrer «aperspektivischen, multivalenten Fülle das Ursprüngliche in die Gegenwart hebt und transparent macht». Das «befreite» dichterische Wort wird somit zu einer «aussagenden Kraft von eigenständigem Wert», es besagt (bedeutet) also nicht etwas ausserhalb der Sprache Befindliches, ist nicht mehr Aussage, sondern «reines» Sagen.
Allzu aufschlussreich sind diese Erörterungen nicht, doch sie lassen sich präzisieren im Rückgriff auf eine frühere Veröffentlichung von Jean Gebser über «neue Denkformen im sprachlichen Ausdruck», die schon 1944 unterm Titel «Der grammatische Spiegel» erschienen war.1 Nimmt man sich das kleine Buch vor, bekommt man, staunend, so etwas wie eine Poetik der Grammatik zu lesen, eine präzise sprachliche Analyse dichterischer Rede, wie man sie sonst nur von ausgewiesenen Formalisten und Strukturalisten kennt. Weder mit diesen noch mit jenen war Gebser auch nur im Geringsten vertraut, und er hätte sich mit ihnen sicherlich auch nicht solidarisieren wollen. – In seinem späteren Hauptwerk wird er die im «Grammatischen Spiegel» gewonnenen Einsichten erneut aufnehmen und fortentwickeln.2
… Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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