Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Lesen, was dasteht (Teil 5)

Lesen, was dasteht

Teil 4 siehe hier

Gefordert ist ein neues, ein eben aperspektivisches beziehungsweise allseitig offenes Sehen und damit auch eine völlig neue Weise des Darstellens. Darstellen heisst nun eher sich darstellen, sich zeigen, sich präsent halten, statt bloss zu repräsentieren. Das sogenannte lyrische Ich verliert dadurch an Autorität und Verlässlichkeit, es kann ganz unterschiedliche Formen, ganz unterschiedliche Namen annehmen, es kann als beliebiges Ding oder auch als Abstraktum zu Wort kommen – als die Sonne, als ein Hund, Wind, Zorn, Schmerz.

Das Verhältnis zwischen Ich und Welt, Wort und Ding wird gestört (entautomatisiert), dabei aber offengehalten für beliebig viele neue Wechselbeziehungen; zum Beispiel: «sah ich zwei nackte Tauben, | die eine war die andre, | und beide waren niemand»; «bin Hoffnung und schillerndes Bunt»; «zu dir, die du ähnelst der Ära des Deltas». Bei Majakowskij mutiert das lyrische Ich zu einem Hund, mit Schwanz, Reisszähnen und Gebell: «… da stand ich jäh | auf allen vieren | und bellte gehörig: | wau! wau! wau!» Oder er feiert (und verhöhnt) sich selbst als einen unbedarften Poeten: «… aus meiner Zahnlücke | strampelt ein Schrei, halb zerkaut, halb verrülpst.» Usf. – Jean Gebser merkt dazu spekulierend an: «Der Mensch ist vielleicht auf dem Wege, aller Dinge Innerstes zu werden.»

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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