Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Lesung und Lektüre (Teil 5)

Lesung und Lektüre

Teil 4 siehe hier

Als literarische Darbietungsform ist die Lesung ein ambivalentes Verfahren. Wenn noch im Mittelalter die Lektüre auch ohne Publikum als lautes Vor-sich-hin-Lesen praktiziert wurde, blieben in der Folgezeit (derweil das Selbst-Lesen verstummte) nur noch zwei andere Lesarten in Gebrauch, nämlich das Vorlesen von fremden Texten durch einen Sprecher und das Lesen eigener Texte durch den Autor. In beiden Fällen gerät die Intonation zu einer subtilen Form von Interpretation. Liest der Autor selbst, ist dieser Gewinn naturgemäss besonders gross, selbst dann, wenn die Lesung rhetorisch unbefriedigend ist.
Wer einen unbekannten, vielleicht gar unveröffentlichten Text vorgelesen bekommt, ist mit einer einmaligen, ausschliesslich akustischen Gegebenheit konfrontiert, während andrerseits gedruckte Texte verschiedenste Lektüren ermöglichen; sie können vollumfänglich, auszugsweise oder diagonal gelesen werden, die Lektüre lässt sich nach Belieben abbrechen oder auch wiederholen – lauter Freiheiten, die bei Publikumslesungen verloren gehen.

 

© Felix Philipp Ingold
aus unveröffentlichten Manuskripten

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