Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Lyrischer Minimalismus (Teil 1)

Lyrischer Minimalismus

 

Als die angesehene Pariser Literaturzeitschrift «La Nouvelle Revue Française» 1924 einen Wettbewerb zur Abfassung von Kürzestgedichten nach dem Vorbild japanischer Haikus ausrief, erhielt sie rund eintausend Einsendungen zur Begutachtung – bemerkenswerter Beleg für die damalige Popularität des lyrischen Minimalismus. Auch Rainer Maria Rilke liess sich davon beeindrucken und verfasste nachfolgend mehrere solcher Gedichte – formal frei adaptiert – in deutscher und französischer Sprache. Das Interesse am Haiku war um die Jahrhundertwende vorab in Frankreich aufgekommen als Begleiterscheinung des Orientalismus und speziell des Japonismus in den bildenden Künsten. Mitbestimmend für die nachfolgende Rezeption in ganz Europa und den USA war aber sicherlich auch die formale Einfachheit des Textschemas, das auf jeweils drei Zeilen 17 Lauteinheiten (Moren) im stets gleichen Verhältnis von 5 : 7 : 5 vorsieht und also leicht nachzuahmen ist.

Das Haiku wurde für Amateure und für professionelle Dichter (Pound, Stevens) gleichermassen zum Faszinosum, und daraus erwuchs schliesslich eine weltweite Haikumanie, die heute – ausserhalb der künstlerischen Literatur – in Workshops, Vereinen, einschlägigen Magazinen und anderweitig gepflegt wird: Das Haiku findet sich wieder, abgekoppelt von seiner fernöstlichen Herkunft, als «gesunkenes Kulturgut» im Spiel- und Unterhaltungssektor unsrer Zeit – Wortbastelei statt Poesie.

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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