Lyrisches Herbsteln
Teil 3 siehe hier …
Gottfried Benns spätes Gedicht «Nur zwei Dinge» (1953) – populär bei der Leserschaft, vielfach besprochen und gedeutet von der Kritik – gilt als versifizierte Summa einer nihilistischen, wenn nicht zynischen Weltanschauung. Die Summa ist, sieht man genauer hin, eine desolate Lebensbilanz und als solche ein ebenso eitles wie resignatives Fazit: Da verabschiedet einer sich selbst und damit auch, ohne Reue oder Bedauern, die Welt insgesamt. Was fällig ist, wird fallen, ist womöglich schon gefallen: «Was alles erblühte, verblich …». Hier der Volltext des Gedichts:
Durch soviel Formen geschritten,
durch Ich und Wir und Du,
doch alles blieb erlitten
durch die ewige Frage: wozu?
Das ist eine Kinderfrage.
Dir wurde erst spät bewußt,
es gibt nur eines: ertrage
– ob Sinn, ob Sucht, ob Sage –
dein fernbestimmtes: Du mußt.
Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.
Das Du steht in diesen Strophen offenkundig für «ich», die scheinbare Ansprache an einen Andern ist ein verkappter Monolog. Das lyrische (und wohl auch Benns persönliches) Ich ist in mehrfacher Hinsicht «gezeichnet» – gezeichnet vom Leben (Biographie, Schicksal, Zufall, Schuld), ausgezeichnet durch unverwechselbare Individualität, gezeichnet auch als Selbstentwurf.
Als «Herbstgedicht» sind die Benn’schen Verse schwerlich zu bezeichnen, doch der Herbst als Saison des Niedergangs und des Abschieds ist hier auf übertragenem Plan durchaus präsent. Alles ist «abgeschritten» und «erlitten», war «fernbestimmt» und musste «ertragen»werden, und «was alles erblühte, verblich» – bleibt nur «Leere» ohne Lehre, ein abgelebtes Leben ohne Sinn. So entfaltet Gottfried Benn seinen eigenen (einen metaphysischen) Herbst.
… Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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