Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Lyrisches Herbsteln (Teil 5)

Lyrisches Herbsteln

Teil 4 siehe hier

Der Herbst ist tatsächlich die einzige Jahreszeit, die fundamentale Gegensätze naturgemäss in sich vereint – Ernte- und Sterbezeit, Erinnerung an den Sommer in Erwartung des unwirtlichen Winters, die Buntheit warmer Farben (Rot, Braun, Gelb) und deren Mutation zu Grau (Nebel, Dunst) und Schwarz (kahle Bäume), danach zu Weiss (bei Schnee). All diese widersprüchlichen Komponenten finden sich in der Herbstdichtung wieder, Variationen sind rar, Klischees dominieren, die Übergänglichkeit des menschlichen Lebens wird fast durchwegs präsent gehalten:

«Nebel hat den Wald verschlungen, | Der dein stillstes Glück gesehn; | Ganz in Duft und Dämmerungen | Will die schöne Welt vergehn.» (Storm) – «Erloschen, grau | Und eingefallen, so wie eines Toten | Gesicht …» (Wildgans) – «An einem schönen Herbsttag möchte ich sterben …» (Kramer) – «Wenn die herbstesnebel wallen | wie ein kleid aus fahler seide …»(Artmann) – «Kinder … die durch den roten Herbst hinwallen | und nichts als totes Laub zerpflücken.» (Huchel) – «… Mit wertlosem | Sommergeld in den Taschen liegen wir wieder | auf der Spreu des Hohns, im Herbstmanöver der Zeit.» (Bachmann) – «Gewaltig endet so das Jahr … Rund schweigen Wälder wunderbar | Und sind des Einsamen Gefährten (Trakl) – «Regen regnet | Septemberschwall; | Grau hallt das All, | Nachtnebel hat | Grünwiesen zugeweht.» (Ehrenstein) – «Ein welkes Blatt – und jedermann weiss: Herbst … O grüne Welt, wie grell du dich verfärbst!» (Kaléko) – «Frühherbstwind … der du mich jetzt schon hungern und frieren lässt.» (Lavant) Usf.

Die Stereotypie aller Herbstdichtung ist offenkundig, konventionelle Formgebung überwiegt, innovative Ansätze (etwa bei der Metaphernbildung) finden sich kaum, Humor und Komik bleiben ausgespart zu Gunsten melancholischer Besinnlichkeit und Klage – der saisonalen Monotonie entspricht die durchgehend eintönige lyrische Rhetorik. Hermann Hesse bietet dafür ein Musterbeispiel, wenn er (in «Verfrühter Herbst», 1930/1939) die üblichen Herbstgedanken und -gefühle perfekt klischiert und zu bekömmlicher Synthese bringt: «Bang wächst ein Wunsch in der erschreckten Seele: | Dass sie nicht allzu sehr am Dasein klebe, | Dass sie das Welken wie ein Baum erlebe, | Dass Fest und Farbe ihrem Herbst nicht fehle.»

… Fortsetzung am 6.10.2024 …

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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