Oh, die Null!
Von der Buchstäblichkeit der Dichtung
O ist ein Selbstlaut, ein Schriftzeichen, eine Interjektion, mithin auch ein eigenständiges Wort: O! Oh!
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Typographisch steht O der Null nah: 0. – Symbolisch kann der Buchstabe gleichermassen für Leere und Fülle stehen, in engerem, konkreterem, auch trivialerem Verständnis – für Loch oder Vulva.
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Schon Homer operiert (in der „Odyssee“) mit dem Buchstaben O und bringt ihn mit der formähnlichen Null in Verbindung, indem er den Namen des Helden (Odysseus) wie auch dessen Pseudonym (Outis) mit der Initiale O versieht: „Outis“ bedeutet Niemand, bezeichnet also eine Leerstelle, während das O bei Odysseus die Präsenz, die „Fülle“ seiner Person bezeugt.
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Oblomow, der Titelheld von Iwan Gontscharows epochalem gleichnamigem Roman (1859), ist durch die dreifache Implikation des O adäquat gekennzeichnet als eine menschliche Nullität, die sich mit ihrer Rundlichkeit, Trägheit und Gewöhnlichkeit begnügt und sich darin auch unerschütterlich gefällt.
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In Arthur Rimbauds Sonett «Vokale» (Voyelles, 1872) repräsentiert O synästhetisch die Farbe Blau, vielleicht also den Himmel, die Romantik, die Kälte? Darüber hinaus wird O explizit mit einem erhabenen Posaunenton verglichen, der zugleich voll und leer sei, sowie mit dem griechischen Omega: Dem letzten Buchstaben des Alphabets schreibt der Dichter eine göttliche violette Strahlung zu – da frönt er offenkundig noch dem Symbolismus, als dessen machtvollster Überwinder er doch eigentlich zu gelten hat.
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Als Visualisierung des O hat man Edvard Munchs weithin bekanntes serielles Bildwerk «Der Schrei» (1893-1910) verstehen wollen, allerdings bildet der Mund der schreienden Frau keine Kreisform, vielmehr ähnelt er als vertikal gestelltes Oval dem weiblichen Genital und damit eher einer Null.
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In der russischen Avantgardekunst des frühen 20. Jahrhunderts (bei Malewitsch, Charms, Rok) kehrt das O in Form der Null (oder Noll) oftmals wieder und wird zur Metapher eines tragikomischen Existentialismus, zu dem etwa die «Nichtsler» oder «Nullitäten» (Nitschewoki) sich als Dichtergruppe bekannten.
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Der Lyriker Joseph Brodsky glaubte im verdoppelten O das Signum des hOmO sapiens zu erkennen, und er sah es auf der Klotür bestätigt durch das Zeichen OO . – Das Doppel-O wird ausserdem mit den Augen assoziiert, kann soviel wie «Blick» bedeuten, während das Zeichen philosophisch und naturwissenschaftlich für die «leere Menge» steht. – Da es im Russischen eine Reihe von Buchstaben gibt, die gleichzeitig als vollwertige Wörter verwendet werden (a, i, k, s, u, w und eben auch o, was «von», «über», «gegen» bedeuten kann), gehört deren Gebrauch zur Alltagssprache und ist weitgehend frei von symbolischer Befrachtung, hat aber doch eine gewichtige Funktion in der Sprache der Poesie. – Dass im Russischen das vielgebrauchte Personalpronomen der dritten Person Einzahl in allen grammatischen Geschlechtern mit einem O beginnt (on/er, ona/sie, ono/es) und dass die häufigen «vollstimmigen» Lautverbindungen «-olo-« und «-oro-« für diese Sprache besonders typisch sind, verleiht dem Vokal eine besondere, dabei durchaus selbstverständliche Präsenz.
… Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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