Oh, die Null!
Von der Buchstäblichkeit der Dichtung
Teil 2 siehe hier …
In seiner jüngst publizierten «Forschung zum O» (Gans Verlag, Berlin 2023) geht Tomer Dotan-Dreyfus auf die eingangs genannten künstlerischen Transformationen des Vokals O nicht ein (und es wären ja noch manch andere zu nennen), doch legt er statt dessen eine Reihe von durchweg «derridistisch» und «lacanistisch» fundierten Einzelstudien vor, u.a. zu Shakespeares «Othello», Kleists «Marquise von O» und der «Geschichte der O» von Pauline Réage, mithin zu drei Werken, die in drei verschiedenen Sprachen abgefasst wurden, so dass die kulturübergreifende Symbolik des Buchstabens O wie auch der Zahl 0 deutlich fassbar wird: «Das ist die Sprache hinter dem O: das Zeichen scheint leer zu sein, es ist aber mit Leere voll. Es widerspricht ‘leer’ und ‘voll’. Es ist sowohl als auch.»
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In den doch sehr unterschiedlichen Textvorlagen zu seiner essayistischen Abhandlung macht Dotan-Dreyfus so etwas wie einen gemeinsamen Nenner aus, und er dokumentiert das Gemeinsame durch eine Vielzahl von Lesarten und Deutungsvarianten. Das mutet bisweilen spitzfindig an, bleibt aber mehrheitlich eher vage und spekulativ – was weiter nicht verwunderlich ist, da das O, symbolisch betrachtet, so gut wie alles zwischen Leere und Fülle, Sinn und Unsinn bedeuten kann. Also lässt sich vieles, fast alles hinein- wie auch herauslesen.
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Bei Othello, der das O gleichsam als Initiale in seinem Namen trägt, erscheint der Vokal bald als Wort (o! oh! – für Horror, Überraschung, Todesangst), bald als Lautqualität, die ihre Entsprechung u.a. in der oftmals wiederkehrenden englischen Schlusssilbe «-ow» (z.B. pillow, auch know) findet – eine Beobachtung, die man plausibel, aber auch beliebig finden kann. Wenn das O von O-thello (griech. thelo bzw. thelisi, «Wille», «Entscheidung») den Titelhelden als Willensmenschen beglaubigen soll und darüber hinaus William Shakespeare angeblich sich selbst (als «Will» für William) ins Spiel bringt, indem er beiläufig auf den seinerzeit populären Willow-Song (Will-O!) verweist, um sein Werk implizit zu signieren, nimmt man dies mit Interesse zur Kenntnis, aber doch mit gehöriger Skepsis und sicherlich nicht als verbindliche Lesart.
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Für Heinrich von Kleists Marquise, die ungewollt und unbewusst geschwängert wird, verbindet sich O leitmotivisch mit «ohne» und «Ohnmacht», ein Zusammenhang, der freilich nur im Deutschen zum Tragen kommt. – Unabhängig von der Sprachzugehörigkeit funktioniert die Symbolik des O in der (französischen) «Geschichte der O», deren Protagonistin als Sexsklavin konsequent mit runden Accessoires (Ringen, Handschellen, Rundkragen) ausgestattet wird, die ihre Offenheit und Zugänglichkeit sowie gleichzeitig ihre Fesselung und Gefangenschaft symbolisieren. O ist ihr Rumpfname, der sie als stets zugängliches Objekt ausweist, während die Null (0) auf ihre unaufhaltsame psychische und physische Vernichtung, ihre Annihilisierung als Person verweist.
… Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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