Poesie der Aufzählung
Anmerkungen zu Inger Christensens «alfabet»
Naturkatastrophen und Seuchen aller Art, dazu Kriege, Staatsstreiche, Attentate, internationale Kriminalität sorgen weltweit für ein Übermass an materiellen Schäden und menschlichen Opfern, so wie andererseits soziale und wirtschaftliche Missstände zu massenhafter Verwahrlosung, in der Folge auch zu massenhafter Migration führen. Überfüllte Flüchtlingslager, Strafanstalten, Spitäler, Fussballstadien, Verkehrsmittel, Badestrände, Schneepisten, Frauenhäuser oder Grundschulen gehören derweil zur Alltagsrealität – ein Zuviel, das sich in Abermillionen Tonnen Plastikmüll, Elektro-, Industrie-, Militär- und Weltraumschrott wie auch in der zunehmenden Methan- und CO2-Belastung exemplarisch konkretisiert, ganz zu schweigen von der seichten, unaufhaltsam expandierenden Text- und Bilderflut in der Werbung und allgemein im Internet (information overload).
Dass dieses Zuviel an unterschiedlichsten Übeln politisch noch zu bewältigen ist, wird immer unwahrscheinlicher, allein, es zu beschreiben, es sprachlich adäquat auf den Punkt zu bringen, ist längst unmöglich geworden – statt dessen nimmt die pauschale apokalyptische Rede überhand und damit die Tendenz zu verschwörungstheoretischen und antiutopischen Diskursen. Ein Zuviel des Guten fällt als Option ausser Betracht. Andererseits gibt es auch ein Zuviel des Mangels, also zu viel von dem, was fehlt, etwa bei Armut, Hunger, Gefangenschaft.
Dem Zuviel beizukommen, es zu bewältigen und zu organisieren, scheint heute nicht mehr machbar zu sein; die bisherigen Versuche dazu – Ratings, Kotierung, Auslese (best of; worst of), Exemplifizierung, Trendsetting, aber auch umgekehrt: Ausblendung – haben ihre Wirkung weitgehend verloren.
Wie ist das unvorstellbare, dabei real bestehende Übermass an Gewalt, Zerstörung, Niedertracht, Leid künstlerisch überhaupt noch zu fassen und zu bewältigen, ohne der Bequemlichkeit der Vereinfachung, Verkürzung, Verfälschung – oder schlicht dem Schweigen – zu verfallen? Die simplifizierende Erklärung der allzu komplexen, angeblich «apokalyptischen» Weltlage wird indessen vorzugsweise in Form von reduktionistischen Verschwörungstheorien und Antiutopien vorgetragen: Schwarzweiss gegen alarmierende und verwirrende Unübersichtlichkeit.
… Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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