Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Poesie der Aufzählung (Teil 2)

Poesie der Aufzählung
Anmerkungen zu Inger Christensens «alfabet»

Teil 1 siehe hier

Das Zuviel ist allerdings auch eine Eigenart der Sprache selbst. Man denke an die Redundanz von synonymen, homophonen oder, allgemein, von bedeutungsähnlichen Ausdrücken, die jeweils eine Gleichheit, wenn auch nicht eine – zumeist prekäre – Identität festhalten.
Auch dieses sprachliche Übermass muss literarisch bewältigt werden, sei es durch dessen möglichst vollen Einsatz im Text (wie in der Barockliteratur oder im Symbolismus), sei es, umgekehrt, durch bewusste Einschränkung des Wort- und Formenreichtums (Volkspoesie, sakrale und konkrete Dichtung, oft auch Naturlyrik).
Anders auf thematischer Ebene – hier geht es darum, das ausserliterarische Zuviel durch Sortierung (Auswahl, Exemplifizierung) einzuschränken, um es zumindest repräsentativ zur Geltung zu bringen. Die serielle Präsentation von Kriegsgräueln, Liebesquerelen oder Drogenexzessen wäre literarisch unglaubwürdig und unwirksam auch dann, wenn sie der Wirklichkeit entspräche. Angesichts der aktuellen Situation in der Ukraine, in Eritrea, Jemen, Palästina/Israel und manchen Ländern Afrikas, angesichts auch von ausgedehnten Waldbränden, Überschwemmungen und katastrophalen Stürmen erweist sich deren realistische Beschreibung notwendigerweise als unzulänglich, weshalb sie nun immer häufiger ersetzt wird durch Zahlen und Statistiken: Gezählt werden Todesopfer, Verletzte, Verschwundene, dazu Sachschäden und Kosten für Wiederaufbau – «nackte» Ziffern, faktographische Aufzählungen statt kohärenter Erzählung.

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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