Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Poesie der Aufzählung (Teil 3)

Poesie der Aufzählung
Anmerkungen zu Inger Christensens «alfabet»

Teil 2 siehe hier

Die sogenannte schöne Literatur resigniert weithin vor der Vielfalt und Unübersichtlichkeit dieser apokalyptisch anmutenden Spätzeit, beschränkt sich auf private Erfahrungs- und Befindlichkeitsbereiche, arbeitet sich ab an überschaubaren Familien-, Krankheits-, Sucht-, Missbrauchs-, Migrations- oder Liebesgeschichten, die mehrheitlich ebenfalls krisenhaft sind, jedoch mit den konventionellen Mitteln hergebrachter Bekenntnisliteratur bewältigt werden können. Die erzählerische oder lyrische Darbietung persönlicher Krisensituationen steht solcherart repräsentativ für die undarstellbar gewordene Krisenlage der Welt insgesamt.
Um das Zuviel an faktischem Ungemach und die Unübersichtlichkeit der aus den Fugen («out of joint») geratenen endzeitlichen Gegenwart zu konterkarieren, hat sich die dänische Dichterin Inger Christensen auf die Tradition der Aufzählungsliteratur zurückbesonnen und 1981 unter dem Titel «alfabet» ein Lyrikbuch vorgelegt,1 das auf jede Gefühligkeit – ob Enthusiasmus oder Skepsis, Klage oder Zynismus – konsequent verzichtet zugunsten nüchterner Faktographie. Als Grundlage und Modell dafür wählte sie die unendliche Zahlenreihe von Fibonacci, ein mathematisches Konzept aus dem 12. Jahrhundert, bei dem jede Ziffer aus der Summe der beiden vorangehenden Ziffern sich ergibt, also 0, 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21 … 89, 144, 233 usf.
Das Faszinosum dieser Reihe bestand für Inger Christensen nach eigenem Bekunden darin, dass hier reine Mathematik und gewachsene Natur zur Übereinstimmung kommen. Tatsächlich findet die sprunghaft fortlaufende Zahlenfolge konkrete Entsprechungen in gewissen Muschelformen, in der Anordnung von Blattwerk, Blüten- oder Samenständen wie auch in der Fortpflanzungsleistung von Kaninchen.

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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