Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Poesie und Poetik des Namens (Teil 12)

Poesie und Poetik des Namens
Beispiele, Analysen, Kommentare

Teil 11 siehe hier …

In den späten 1950er Jahren war Paul Celan intensiv mit russischer Dichtung befasst, vorzugsweise mit dem Werk Aleksandr Bloks, Sergej Jessenins und Ossip Mandelstams. Von letzterem hat er die erste repräsentative Lyrikauswahl in deutscher Übersetzung vorgelegt («Gedichte», 1959), eine Pionierleistung, die noch heute Bestand hat als gleichrangige Entsprechung zu seinen eigenen Gedichten.
Aus dem intensiven Umgang mit Mandelstam entwickelte sich so etwas wie eine literarhistorische Wahlverwandtschaft. Celan glaubte in dem russisch-jüdischen Autor aus Warschau, der unter dem sowjetischen Staatsterror der 1930er Jahre verfolgt, verfehmt, «vergeudet» wurde, einen Gesinnungs- und Leidensgenossen zu erkennen, und ihm widmete er denn auch «Die Niemandsrose», sein grosses, ab 1959 entstandenes, 1963 erschienenes Dichtwerk, das über weite Strecken als ein bald direkter, bald indirekter, impliziter Dialog mit Mandelstam zu lesen ist – mit zahlreichen Anspielungen auf dessen Werk und Leben, mit manchen daraus übernommenen Metaphern und Motiven, vor allem aber mit der vielfachen An- und Aufrufung der Namen «Ossip» (Josef) und «Mandelstam» beziehungsweise «Mandelstamm»: Schon im Buchtitel – «NieMANDsrose» – klingt MANDelstams Name deutlich an, und in verschiedenen Texten wird er effektvoll variiert und entfaltet.
Am Titel wie an der Widmung und den Motti hat sich Celan lange abgearbeitet: Zunächst sollte der Band «Stationen» heissen, 1961 fiel der Entscheid für «Die Niemandsrose», Motti von Dante, Shakespeare, Hölderlin und auch von Mandelstam wurden in Erwägung gezogen und wieder verworfen; als ursprüngliche Widmung ist überliefert: «OSSIP MANDELSTAMM | Dem Dichter | Dem Menschen | IN MEMORIAM | AETERNAM», definitiv lautet sie schlicht: Dem Andenken Ossip Mandelstamms.

… Fortsetzung am 1.3.2025 …

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik