Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Poesie und Poetik des Namens (Teil 3)

Poesie und Poetik des Namens
Beispiele, Analysen, Kommentare

Teil 2 siehe hier

In Widmungs-, Erinnerungs- und Liebesgedichten werden reale Personen und deren echte Namen fast durchwegs direkt angesprochen, oft auch gleich im Titel genannt: «An Henriette von***» (Mereau), «Brief an Alice» (Göritz), «Nachruf auf Vladimir» (Grass), «Elegie für Steven» (Kaléko), «Obwohl du Margot heisst» (Mühsam), «Meiner lieben Fanny» (Walser),«Komm Sebastian» (Ausländer) usf. Die meisten dieser Gedichte beruhen auf privaten Beziehungen und Erfahrungen, sind vertraulich oder auch intim gestimmt, die Anrede erfolgt gewöhnlich in Du-Form.
Da die solcherart evozierten Adressaten («Alma, dein Name», «Sibylle des Sommers», «lieb Sonja» usf.) als Personen für die Leserschaft unbekannt, unerreichbar und deshalb – ihren Namen zum Trotz – faktisch anonym bleiben, liegt es nah, das «Du» auf sich selbst als Leser, als Leserin zu beziehen oder es typologisch zu verallgemeinern (die treue Gattin, die untreue Geliebte, der verlässliche, der verräterische Freund, der persönliche, der politische Gegner usf.). Der lyrische Text konstituiert sich dadurch scheinbar als Gespräch, wird abermonologisch vorgetragen, eine Besonderheit, die er mit dem Gebet teilt.
Wenn der Expressionist Albert Ehrenstein in einer bitteren versifizierten Suada seine lasterhafte Geliebte – die «blonde Viola», die «blaue Viola» – gleichsam ins Gebet nimmt, ihr vorwirft, sie gebe sich wahllos fremden Männern hin, derweil sie ihm ihren Kuss und ihren Schoss verweigere, bezieht er sich damit (hier wie auch in andern seiner desolaten Liebesgedichte) auf eine private Problemsituation und eine Person, die für die Leser tatsächlich nicht mehr ist als ein Name.
Doch der Name als solcher, ob er nun real oder fiktiv sei, weckt mancherlei Assoziationen – als Begriff verweist Viola auf lateinisch «violare» (entehren, schänden), französisch «viol» (Vergewaltigung), aber auch harmlos auf «viola» (Veilchen, Levkoje), zudem auf Shakespeares gleichnamige Protagonistin (in «Was ihr wollt») und ebenso auf die«blaue Blume» der Romantik, fügt sich also in ein bestehendes Bedeutungsfeld, gewinnt dadurch eine gewisse Aura, die Ehrensteins düstere Bordellszenerie literarisch überhöht, sie abhebt vom Privatissimum des Autors mit seiner Viola, auf die er zunächst verzweifelt, dann verächtlich, zuletzt mit moralischem Eifer einredet:

Die Haut der charmanten Viola
Altert vor Wein und Belag,
Dein Hirn hurt, o Viola,
Ins Unglück noch deinen Leib,
Dein Leib, dein einziges Kleid, o Viola,
Wälzt sich von Leid zu Leid,
Nur Liebe gibt dir, o Viola,
Die seligen Wellen der Lust,
Die Lust wird dir, o Viola,
Nie ohne Sehnsucht der Seele,
Deine Seele fällt, o Viola,
Wenn du dich nicht änderst,
Zugrund.

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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