Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Poesie und Poetik des Namens (Teil 7)

Poesie und Poetik des Namens
Beispiele, Analysen, Kommentare

Teil 6 siehe hier

Gedichte, von ihren Autoren an die eigenen Kinder gerichtet, waren einst gang und gäbe, oft wurde dabei der Nachwuchs mit der Nachwelt schlechthin identifiziert, und das Gedicht sollte Prophezeiung, Wunsch, Wegleitung oder Mahnung sein. Der jeweils genannte reale Eigenname stand dementsprechend meist auch für die Gesamtheit der Nachgeborenen und deren Zukunft. Beispielhaft dafür sind die zahlreichen Namensgedichte des Andreas Gryphius aus dem frühen 17. Jahrhundert, Gedichte zu vielerlei Gelegenheiten, so zu seiner eigenen Geburt und zur Geburt Jesu wie auch zur Geburt seiner Tochter Anna Rosina: «Dich erquicke diese Quelle | die aus Christi Seit entspringt; | So wird dich kein Sonnen-Stechen auch kein Nachtes Frost bestreiten … | … und kanst bey Mensch und GOtt ein schönes Röschgin heissen.»
Fast 400 Jahre danach hat Rainer Maria Rilke, gewiss kein Familienmensch, seine Tochter Ruth anlässlich ihrer Geburt im Herbst 1901 mit einem titellosen Gedicht begrüsst, dass der Intonation und dem Sinn nach bei Gryphius anzuknüpfen scheint:

Und meine Seele ist ein Weib vor dir.
Und ist wie der Naëmi Schnur, wie Ruth.
Sie geht bei Tag um deiner Garben Hauf
wie eine Magd, die tiefe Dienste tut.
Aber am Abend steigt sie in die Flut
und badet sich und kleidet sich sehr gut
und kommt zu dir, wenn alles um dich ruht,
und kommt und deckt zu deinen Füßen auf.

Und fragst du sie um Mitternacht, sie sagt
mit tiefer Einfalt: Ich bin Ruth, die Magd.
Spann deine Flügel über deine Magd.
Du bist der Erbe…

Und meine Seele schläft dann bis es tagt
bei deinen Füßen, warm von deinem Blut.
Und ist ein Weib vor dir. Und ist wie Ruth.

Mehrfach wird der Name der Tochter, Ruth, im Text genannt, und Rilke stellt ihn besonders heraus, indem er ihn als Reimwort (zu «ruht», «gut», «Blut») einsetzt. Ruth wird abwechselnd in der dritten, zweiten und sogar der ersten Person vergegenwärtigt («sie», «du», «ich»), der Autor feiert sie in deutlicher Anspielung auf die biblische Ruth als Erntehelferin und als jene «Magd», die untertänig eine Nacht zu Füssen ihres Herrn verbringt und damit dessen Liebe gewinnt.
Die unterschiedliche Verwendung und Zuordnung des Namens ist höchst verwirrlich – Rilke bringt seine eigene «Seele» ins Spiel, die er als ein «Weib» bezeichnet, das «vor» Ruth gestanden und bestanden haben soll. Indem er die eigene Tochter mit der legendären «Magd, die tiefe Dienste tut», überblendet, relativiert und verallgemeinert er den Eigennamen, und mehr als dies – er legt die Neugeborene vorab auf die Rolle einer Dienerin fest und scheut sich nicht, seinerseits die Rolle ihres Herrn zu übernehmen, der sich nachts von ihr umhegen lässt. Nicht anders als Günter Eichs Sohn Clemens hätte wohl Rilkes Tochter Ruth das väterliche Widmungsgedicht – trotz direkter Namensnennung – als befremdlich, ja unpassend oder anmassend empfunden.

… Fortsetzung am 24.2.2025 …

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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