Poetik des Satzbaus
Teil 1 siehe hier …
Wenn einst Roman Jakobson die «Grammatik der Poesie» als «Poesie der Grammatik» ausgewiesen und durch zahlreiche Gedichtanalysen (zu Hölderlin, Baudelaire, Hopkins, Chlebnikow, Brecht) einsichtig gemacht hat, könnte man vielleicht – vergleichs- und versuchsweise – im Hinblick auf Claude Simons kunstvoll gebaute Sätze sagen, es handle sich dabei, unter linguistischem Gesichtspunkt, um eigens ausgearbeitete Prosagedichte: Ein Satz, für sich genommen, als Gedicht.
Dies hier darzulegen, ist aus zweierlei Gründen problematisch. Einerseits deshalb, weil die Sätze mehrheitlich sehr umfangreich sind und an dieser Stelle nicht vollständig angeführt werden können, andrerseits aber auch, weil die französische Originalfassung, ebenfalls aus Platzgründen, fortgelassen und durch eine deutsche Nachbildung ersetzt werden müsste. Wenn dabei gleichwohl die Grammatik und Syntax der Vorlage erhalten bleibt, geht ihre lautliche Qualität notwendigerweise verloren und ebenso das sprachinterne assoziative Spiel mit Redensarten, Dialekten, Zitaten. Dennoch sei der Versuch gewagt. Als Beispiel verwende ich den letzten Langsatz aus Claude Simons Roman «Der Wind» (Le vent, 1957), der für sich allein zwei Druckseiten einnimmt.
Der Satz beginnt wie folgt: «Und zweifellos gab es für ihn etwas, das wichtiger als die Ruhe war, oder dass vorab eine Wartezeit nottat, bis an Ruhe auch bloss zu denken war, und dass er allein in dieser Luft etwas erlangen konnte, das er allein dort unten entdecken konnte, beim Sitzen auf dieser Bank, wo er ohne Zweifel seine Tage verbrachte, ohne nun auch nur noch den ersten Donnerstag des nächsten Monats abzuwarten, vielleicht gar ohne überhaupt noch etwas zu erwarten, ohne irgendetwas noch zu suchen, nicht mal eine Antwort, sich damit begnügend zu verweilen dort, in der langsamen und immer gleichen Abfolge der Stunden, der Tage, vor unverändertem, unveränderlichem Dekor die altertümliche und verehrenswürde Erde, die alte verschmutzte Welt, unentwegt bei jeder Morgendämmerung neu erstehend in ihrer ursprünglichen Jungfräulichkeit unter strahlendem Licht, ohne jedes Geheimnis, offenkundig …»; und er endet: «… und die ewigen Boulespieler, und der einsame Gesang eines Vogels im Käfig, herkommend aus der Tiefe eines Haushofs jenseits der Dächer, jenseits der Zeit, das Schweigen: alles in der erneuerten, unzerstörbaren Ordnung, selbst der Wind, von neuem da, die ersten Stösse des Herbstwinds, sporadisch nun den Storen des Cafés durchschüttelnd, sie walkend, sie blähend und dann wieder sie erschlaffen lässt mit trockenem Knattern wie von Geschützfeuer.»
Das ist, wohlverstanden, keine literarische, sondern lediglich eine Rohübersetzung, die alle grammatikalischen und syntaktischen Gegebenheiten des französischen Originals berücksichtigt.
… Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold
aus unveröffentlichten Manuskripten
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