Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Scheisslyrik

Scheisslyrik

 

«Scheisse» ist heute eins der häufigsten, mithin harmlosesten Schimpfwörter überhaupt. Es wird im Alltag bekanntlich ebenso unbedacht verwendet wie auf der Theaterbühne, in der Belletristik, in Talkshows.

Dass «Scheisse» nicht bloss als automatisiertes Schimpfwort zu gebrauchen ist, sondern auch als Thema für die Dichtung taugt, hat wohl erstmals der Malerpoet Dieter Roth alias Diter Rot exemplarisch vorgeführt. Von ihm gibt es mehrere Werke, die die «Scheisse» im Titel oder als Titel führen, ich selbst besitze seit vielen Jahren seine «Vollständige sammlung der scheisse gedichte», das ist Band 13 der illustrierten Werkausgabe, den ich einst in der Wühlkiste eines Kleinantiquariats entdeckt hatte – ein Prachtband von 472 Seiten Umfang, der inzwischen für 300, 400 Euro gehandelt wird.1 Drin enthalten sind die Gedichtfolgen «scheisse» (1967), «noch mehr scheisse» (1967), «die gesamte scheisse» (1968), die schon bald ergänzt wurden durch die Supplementbände «Frische Scheisse» (1972), «Frühe Schriften und Typische Scheisse» (1973) und endlich dann «Die die Die DIE GESAMTE verdammte SCHEISSE von Karl-DIETRICH ROTH» (1975).

Was in all diesen Titeleien wiederkehrt, ist also das Hauptwort «Scheisse», das hier zweierlei zu bedeuten hat, nämlich dass Roths Gedichte einerseits «Scheisse» zum Gegenstand haben und dass sie andrerseits selbst als «Scheisse» zu betrachten –  zu lesen – sind: Fäkalpoesie als Wegwerfprodukt; aber eben auch – Wegwerfprodukt als Wertgegenstand.

Dazu passt im Übrigen das Selbstbildnis als Hundehaufen, das der Künstler zu gleicher Zeit graphisch ausgearbeitet hat, um seine klägliche Wenigkeit anschaulich zu machen. Das Selbstbildnis gerät hier zu einem Akt und Werk der Selbsterniedrigung, es verkehrt die Autorität des Autors bedenkenlos in ihr Gegenteil und entwertet damit implizit auch dessen Werk:

Scheisse statt Schöpfung!

Man erinnere sich – gleichzeitig war damals weithin die Rede vom «Verschwinden», wenn nicht vom «Tod» des Autors und generell von der Überflüssigkeit «schöner» Literatur, der Lyrik vorab. Insofern fügt sich Dieter Roth mit seiner radikalen Demontage allen Künstlertums in die zeitgenössische Kulturkampfszene ein. Dennoch weist seine «Scheiss»-Ästhetik weit darüber hinaus, und jedenfalls gewinnt sie heute, da der Autor (und mehr noch die Autorin) wieder voll im Trend ist, neue Aktualität.

Wenn Roth seine Lyrik als «Scheisse» ausgibt, konterkariert er damit unmissverständlich die althergebrachte Auffassung vom dichterischen Originalwerk. Der Prozess des Schreibens wird nicht mehr produktiv und kreativ gedacht, sondern umgekehrt als ein Akt der Verformung und Vernichtung.

Poesie als Eat art, Schreiben in Analogie zur Verdauung: Etwas Vorgegebenes, Vorgeformtes wird – wie Nahrung – einem Stoffwechsel zugeführt, der alles zersetzt, vernutzt und als Exkrement wieder ausscheidet. Hier, zum Beispiel, ein Lyriktext von Dieter Roth:

WENN DER PAPI SCHON ANGST HAT, LIEBE KINDER MEIN,
DANN KÖNNT IHR IHN MAN GLEICH BEGRABEN. ABER VORHER SOLLTET
IHR IHN NOCH AUSSEN MIT EUREN KLEINEN TRÄNEN WASCHEN
UND VON INNEN MIT STEINHÄGER, DANN WEINT
ER BESTIMMT NICHT MEHR UND TUT AUCH NICHTS MEHR.
DANN MACHT’S AUCH NICHTS MEHR, DASS ER TOT IST, DENN DANN
IST ER TOT, UND INNEN DURCHGEWASCHEN BIS ANS ARSCHLOCH,
UND AUSSEN ABGEWASCHEN BIS ANS ARSCHLOCH. O. K.?

Wenn Roth seinen «Scheiss»-Text in Grossbuchstaben setzt, gibt er ihm damit – wie bei einer Gedenktafel – den respektheischenden Anschein einer Gravur, und tatsächlich tritt in diesem Fall das sogenannte lyrische Ich in der dritten Person auf («Papi», «er»), die/der im Übrigen bereits «tot» ist und gleichsam hinter der Grabplatte hervor zu den hinterbleibenden Kindern spricht:

Ein «Scheiss»-Gedicht als Memento mori, zugleich aber zynische Verabschiedung aller Literatur.

Dieter Roth hat diese Verabschiedung, dieses Memento augenfällig gemacht, indem er geschredderte Bücher – Werke von Hegel, von Grass – in Därme stopfte und sie in Wurstform als Textobjekte präsentierte. Das mag als zeitbedingte Provokation verstanden werden, doch es war, meine ich, weit mehr als das, nämlich ein letzter, ziemlich rabiater Versuch, Literatur von jeglicher Aura und von jeglichem Formzwang zu befreien, sie einzulassen in die jedermann zugängliche Alltagswelt.

Das ist heute weitgehend erreicht, mit dem ambivalenten Ergebnis, dass insgesamt – gerade in der Lyrik – wohl mehr geschrieben als gelesen wird.

 

© Felix Philipp Ingold
aus unveröffentlichten Manuskripten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00