Schreiben als Lesart1
Ausser dem Übersetzen ist das Abschreiben von Texten wohl die intensivste Art der Lektüre, eine gleichsam mikroskopische Praxis, die sich nach Einführung des Buchdrucks erübrigte und bloss noch in klösterlichen Skriptorien gepflegt wurde. Das Abschreiben nicht anders als das laute Ablesen schriftlicher Vorlagen gehörte zur religiösen Unterweisung, war hilfreich bei der Meditation wie auch bei der Aneignung und beim Memorieren von Wissen.
Die Möglichkeit, Texte drucktechnisch zu vervielfältigen und später photomechanisch zu kopieren, liess die einst übliche Abschrift von Hand obsolet werden – nur in Ausnahmefällen hielt und hält man daran fest, so bei der kalligraphischen Ausfertigung von Diplomen, Urkunden und andern persönlichen Dokumenten.
Dass jedoch gedruckte und weithin verbreitete Texte handschriftlich nachgeschrieben werden, ist ein heute rarer Gratisakt. Wozu? Für wen?
Einen vernünftigen Grund dafür gibt es nicht, und Adressaten solcher Nachschriften dürften schwerlich auszumachen sein. Denn Handgeschriebenes zu lesen macht naturgemäss weit mehr Mühe als die Lektüre eines gedruckten Texts mit homogenem Schriftbild und fixem Satzspiegel.
… Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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