Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Schreiben als Lesart (Teil 2)

Schreiben als Lesart1

Teil 1 siehe hier

Die deutsche Schriftkünstlerin Hilde Fieguth setzt ihre unscheinbare, jegliche Kalligraphie vermeidende Handschrift in zahlreichen Arbeiten dafür ein, um ausgesuchte, zumeist literarische Texte auf neuartige Weise lesbar zu machen. Abweichend von der gewohnten Linearität des Schriftverlaufs hält sie Sätze und Absätze, Verse, Strophen und auch integrale Gedichte als fluktuierende Sprachbänder fest, die sich bald wellen- oder bogenförmig, bald als Spiralen oder konzentrische Kreise zu unterschiedlichen, oft labyrinthartigen Figurationen fügen.
Aus den willkürlich arrangierten Schriftzeichen entsteht noch jedesmal ein eigenständiges Schrift-Bild, das sich gleichermassen zum Sehen wie zum Lesen anbietet. Naturgemäss erfordert die Lektüre grösstmögliche Aufmerksamkeit und Nähe zum Original, während für die Wahrnehmung und Betrachtung des Bild-Werks, ebenfalls naturgemäss, Abstand genommen werden muss. Man ist also, konfrontiert mit Hilde Fieguths Blättern, stets in zwiefacher Hinsicht gefordert. Als Leser folgt man den Schriftgirlanden, man entziffert unter wechselndem Gesichtspunkt, was in unterschiedlichen Farben dasteht, und man gewinnt tatsächlich das Gefühl, auch bereits bekannte Texte – vom Kohelet bis hin zu Novalis, Ponge und Corinna Bille – erstmals vor Augen und dann in den Sinnen zu haben.
Die Künstlerin selbst versteht ihr schriftbildnerisches Tun als visuelle beziehungsweise visualisierende «Interpretation» von Fremdtexten, die sie sich eben dadurch gewissermassen «zueigen» macht, ohne jedoch den Betrachter oder die Leserin darauf zu verpflichten; ihr Vorhaben besteht einzig darin, «die poetische Atmosphäre, bestimmte Aussagen oder auch die Komposition eines literarischen Werks sichtbar zu machen». Doch darüber hinaus bleibt man frei, auf den verschlungenen Schriftwegen zu nomadisieren und dabei den eignen Assoziationen zu folgen.

 

Schriftbild von Hilde Fieguth zu Novalis

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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