Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Selbsttätige Dichtung (Teil 3)

Selbsttätige Dichtung

Teil 2 siehe hier

Die Privilegierung des Sprachklangs und des bedeutungsfreien Schriftzeichens vor jeglicher kohärenten Aussage ist für diese Art von Poesie charakteristisch – Malewitsch selbst, aber auch manche seiner Zeitgenossen (Ball, Stramm, Hausmann, Carrà, Krutschonych u.a.) haben sich diesen Ansatz zueigen gemacht. Wenn Malewitsch gleichzeitig festhält, die neue Dichtung mutiere zu einer «neuen Religion», ist klargestellt, dass künstlerischer Fortschritt hier als ideeller Rückschritt bewerkstelligt werden soll; und was dabei herauskommt, liest sich bei ihm wie folgt:

ULE ELJE LEL LI ONE KON SI AN
ONON KORI RI KOASAMBI MOENA LESH
SABNO ORATR TULOSH KOALIBI BLESTORJE
TIWO ORENE ALISH

Es ist ein Text ohne jeden Bedeutungszusammenhalt, ein Gedicht, das nicht assoziativ auf irgendeine Aussage hin gelesen, folglich auch nicht übersetzt werden kann – ein «transmentaler», ein hintersinniger Text (russ. sa-um), der sich damit begnügt, sprachliches Rohmaterial (einzelne Laute, Silben, Phantasiewörter) kontextfrei aufzureihen. Das erinnert eher an einen Orakel- oder Zauberspruch als an avantgardistische Poesie. Die Unverständlichkeit ist gewollt, die Fülle der Assoziationen um so grösser.
Das formalistische Prinzip des Machens und der Gemachtheit scheint hier unterlaufen zu werden von unkontrollierter Zungenrede. Orphische Ursprache statt poetisches Kalkül. Und das auf dem Höhepunkt nicht nur der literarischen, sondern auch der politischen (bolschewistischen) Revolution!

Fortsetzung hier …

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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