Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Sprache, beim Wort genommen

Sprache, beim Wort genommen

 

Gibt es eine Annäherung zwischen Gebrauchs- und Dichtersprache?

Von Georg Christoph Lichtenberg stammt das launige Bonmot, wonach es auch in dürftiger Zeit noch immer ein paar gebildete Leute gebe, bei denen die schlichte Wortform «angenommen» fast zwanghaft den althergebrachten Herrscher- und Heldennamen «Agamemnon» heraufbeschwöre. In aphoristischer Kürze wird hier nicht bloss klassische Bildung subtil ironisiert, es wird gleichzeitig die Funktionsweise des Kalauers vorgeführt, der in der Alltags- wie in der Dichtersprache – mal als spontanes Wortspiel, mal als ausgeklügeltes Lautgebilde – seit jeher seinen Platz hat. Um von «angenommen» auf «Agamemnon» oder, wie an einer berühmten Stelle bei James Joyce, von «meandertale» auf «Neandertal» zu kommen, braucht es nichts anderes als eine kaum merkliche Verschiebung des jeweiligen Letternbestands. Die Verschiebung – Prinzip des Anagramms und mancher Assonanzen – kann als einfacher Buchstabentausch vorgenommen werden (Rat/Art), als Versetzung mehrerer (oder aller) Buchstaben eines Worts (Name/Amen), als Umkehrung der gesamten Buchstabenfolge (Regen/Neger), als Silben- oder Wortverschiebung innerhalb eines Satzes u.ä.m.
Vielfach werden diese Verfahren, die von den Vorsokratikern bis hin zu Jacques Derrida und Oskar Pastior reichlich zu belegen sind, allerdings nicht mit letzter Konsequenz praktiziert, es kann durchaus vorkommen, dass bei der einen oder andern Aktion einzelne Buchstaben fortgelassen, andere willkürlich hinzugefügt werden. Das ist bei zahlreichen Wortwitzen der Fall, es gehört zur Praxis des alltäglichen Sprachgebrauchs (Versprecher, Echowörter) ebenso wie zu hochkomplexen dichterischen Gebilden. Unter beliebig vielen Beispielen dafür wäre Friedrich Hölderlins lyrische Entfaltung der Wortreihe Erde – Rede – Äther (in «Germanien») zu nennen oder Ernst Jandls Nach- und Umschrift des biblischen Schöpfungsberichts («Im Anfang war das Wort …»), der durch den irregulären Beizug der Laute «sch» und «l» parodistisch verfremdet wird: «schim schanflang war das wort schund war blei …»
Man ist sich kaum noch bewusst, dass ein Grossteil europäischer Sprachkunst – die Volksdichtung eingeschlossen! – sich mit souveräner Selbstverständlichkeit derartiger Verfahren bedient. Das gilt vorab für den End- oder Binnenreim, den gewiss populärsten Kunstgriff aller Poesie. Der Reim kann noch so trivial (Herz/Schmerz), noch so subtil sein (waren/wahren), in jedem Fall ist er das Ergebnis «buchstäblicher» Klein- und Präzisionsarbeit am Wort. Obwohl solche Arbeit, auch wenn sie weit über den Gleichklang von Reimpaaren hinausgeht und zum bestimmenden Faktor dichterischen Tuns wird, leicht nachzuvollziehen und zu durchschauen ist, gilt sie weithin als «schwierig», als abschreckend sogar. Für den literarischen Normalverbraucher ist «schwierig» gleichbedeutend mit unverständlich, und Unverständlichkeit gilt grundsätzlich als Defizit in einer Lebenswelt, wo man sich mit «alles klar?» zu begrüssen und mit «alles klar!» zu verabschieden pflegt. Versiertere Leser neigen dazu, die «Schwierigkeit», die «Unverständlichkeit» von Gedichten auf einen gewollten, letztlich anmassenden Hermetismus zurückzuführen. Das Hermetische wiederum wird gemeinhin als provokanter Bedeutungsentzug empfunden und dementsprechend als «dunkel», oft auch als «elitär» gerügt.
Gewiss käme niemand auf den Gedanken, die Sprache der Werbung, die wie ein weit verästelter Fliesstext unsern Alltag durchwirkt, «schwierig» oder gar «unverständlich» zu nennen. Und doch ist diese auf Appell und Verführung angelegte Gebrauchssprache keineswegs so unbedarft, wie man zunächst vielleicht meinen möchte. Was die Werbung in breiter Streuung auf Plakaten, in Prospekten oder Inseraten zu lesen gibt, was man am Kiosk – täglich neu – als Schlagzeilen vorgeführt bekommt und was in Radio- oder Fernsehspots an Merksprüchen zu hören ist, steht zumindest in formaler Hinsicht nicht hinter den Standards zeitgenössischer Poesie zurück. Gerade jene dichterischen Formen und Vorgehensweisen, die man für besonders «schwierig» hält und die vorab bei angeblich «hermetischen» Autoren das Textverständnis erschweren, sind in der Werbesprache gang und gäbe, und mehr als dies – sie sind auch dem breiten Publikum problemlos verständlich.
Man muss, um einen wortspielerischen Slogan zu verstehen, nicht wissen, was eine Paronomasie, ein Anagramm, ein Palindrom oder eine Homophonie ist. Man darf aber konstatieren, dass all diese und zahlreiche weitere Wortgebilde und Klangfiguren zum Repertoire nicht nur der Dichter-, sondern auch der Werbesprache gehören. Zwar verfasst der Werbetexter weder Oden noch Sonette, und auch die Gegenstände und Themen seiner Slogans – eine aktuelle Versicherungsleistung, eine politische Wahlempfehlung, ein Sonderverkauf, ein Trendrestaurant, ein neuer Firmen- oder Produktname – sind oft alles andere als «poetisch». Poetisch ist indes die Art und Weise, wie er mit dem Sprachmaterial verfährt, um ihm immer wieder andere einprägsame Effekte abzugewinnen. Die geforderte Kürze macht den Werbetexter notwendigerweise zum Verdichter, und wer Aussagen, Ideen, Programme zu verdichten hat, kann nicht umhin, mit dichterischen Mitteln auf der Wort- und Lautebene zu operieren.
Diese Operationen sind zumeist so diskret, dass man sie kaum wahrnimmt, und doch können sie – bewusst oder unbewusst – eine bemerkenswert intensive Wirkung haben. Oft genügt ein minimaler Eingriff, um ein Wort, eine Wortverbindung so zu verfremden, dass ein nachhaltiger Aha!-Effekt ausgelöst, ein spontanes, auch lustvolles Begreifen ermöglicht wird. Das «Angebot für Wohnsinnige» spricht Leute an, denen der Sinn nach einer neuen Wohnung steht und die das Angebot der Immobilienfirma für besonders günstig («Wahnsinn!») halten sollen. Wer im Restaurant «Chickeria» essen geht, darf sich auf ein Hühnergericht freuen und sich – die Assoziation wird mitgeliefert – der «Schickeria» zugehörig fühlen. Das Reisebüro, das dem Kunden einen «Meehrwert» oder «Im Winter noch Meehr!» verspricht, muss nicht mehr eigens erklären, dass ein Urlaub am Meer ein Mehrwert an Lebensqualität und zugleich mehr wert ist als der Preis, den man dafür bezahlt. «Taximal zuverlässig» ist eine Taxifirma, die sich als maximal zuverlässig empfiehlt. «Sparadiesisch!» lautet der Slogan einer Bank, die das Sparen im Hinblick auf paradiesische Ferien oder überhaupt auf ein paradiesisches Leben propagiert. Aus dem Begriff Sparguthaben wird bei einer andern Bank der lautgleiche Spruch «Spar! Gut haben.»
Minimalistische Texte dieser und ähnlicher Machart werden heute in beliebiger Anzahl produziert, sie werben nicht nur, sie unterhalten auch, und sie scheinen mehr und mehr das allgemeine Sprachgefühl zu sensibilisieren. Der Wortwitz hat Hochkonjunktur. Das ingeniöse Spiel mit Lettern und Lauten gehört zum alltäglichen Sprach- und Sprechgebaren. Selbst bei politischen Protestkundgebungen kommt der Kalauer, kommt die Buchstabenakrobatik zum Zug: «Piratisierung» (Schlagwort gegen Privatisierung), «Tschou Bisness» (Ciao/Show Business: Anti-WEF-Slogan), «HerrliCHberg” (Werbung für die Gemeinde Herrliberg, die sich als «herrlich» und mit «CH» zugleich als schweizerisch empfiehlt), «Sport bis Mord» (TV-Programm), «Rudi hau die Saudi» (anagrammatischer Slogan zur Fussball-WM 2003: Trainer Rudi Völler soll die deutsche Mannschaft gegen Saudiarabien zum Sieg führen), «Turmbau zu Basel» (Anspielung auf «Babel» in einem kritischen Bericht über ein Hochhausprojekt), «Xang isch xung!» (Losung des Sängers Polo Hofer), «Geiz ist geil» (neues Lifestyle-Motto). Zunehmend werden auf solche Weise auch Werktitel und Schlagzeilen generiert: «Schauspiel aus!» (Schlagzeile zur Krise am Schauspielhaus Zürich: ein Buchstabe wird durch Leerschlag ersetzt), «Kess sein statt Messwein» (Zeitungsartikel), «Leid, Kultur» (Zeitungsessay zum Thema Leitkultur), «Den richtigen Thon finden» (Gleichklang Thon/Ton: Artikel in einem Konsumentenmagazin).
Mit zunehmender Häufigkeit wird in der Presse wie in der Werbung auf allgemein bekannte (oder jedenfalls als bekannt vorausgesetzte) literarische Zitate und Werktitel wortspielerisch Bezug genommen. «Design oder nicht sein» verweist auf den grossen Hamletmonolog bei Shakespeare, «Die Nackten und die Quoten» auf einen Bestsellerroman von Norman Mailer («Die Nackten und die Toten»), «Fiedler ohne Ruf» auf das Musical «Fiddler on the Roof», «Der Richter und sein Banker» (über den Chef der Deutschen Bank vor Gericht) auf Friedrich Dürrenmatts frühen Roman «Der Richter und sein Henker», der Magazinbeitrag «Besuch mit alten Dramen» auf die Komödie «Besuch der alten Dame» usf. In all diesen Fällen kann das Wortspiel und damit die Ironie der tieferen Bedeutung nur dann funktionieren, wenn auch die jeweilige literarische Referenz erkannt wird. Es ist durchaus bemerkenswert, dass man dies bei der breit gestreuten Leserschaft von Polit- und Unterhaltungsmagazinen so fraglos voraussetzt.
Im übrigen scheint auch die massenhaft praktizierte Übermittlung von Kürzesttexten via Handy (SMS) in weiten Userkreisen das poetische Potential der Alltagssprache neu bewusst gemacht zu haben. Mit grösster Selbstverständlichkeit werden komplexe rhetorische Figuren und dichterische Verfahren, die man in aller Regel weder dem Begriff noch der Funktion nach kennt, für die alltägliche elektronische Kommunikation eingesetzt, und bereits hat sich daraus die spezifische Textform des SMS-Gedichts entwickelt. Alltags- und Dichtersprache kommen sich, bei durchweg unterschiedlichen Intentionen, wechselseitig näher – ihre nun wieder entdeckte gemeinsame Basis ist, mit Walter Benjamin zu reden, das Sprachliche an der Sprache: ihre Buchstäblichkeit, ihre Lautgestalt. Was aber, versteht sich, den poetischen Qualitätsunterschied zwischen einem starken Gedicht und einem noch so ingeniösen Kalauer nicht aufhebt.

 

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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