Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Ungeahnte Ahnen

Ungeahnte Ahnen

 

Es geht gegen die Logik und es geht vorab gegen die Chronologie, wenn ich bei meinen Lektüren auf Texte stosse, die sinngemäss, dem Konzept nach, teils sogar wörtlich von mir selbst stammen, obwohl ihre Entstehung weit zurückliegt und ich sie erst jetzt, lang danach, zur Kenntnis nehme.
Mit andern Worten: Nicht selten finde ich mich bei andern, frühern Autoren zitiert oder resümiert, also gleichsam vorweggenommen, bei Autoren, die meine Vorläufer und Vorbilder hätten sein können und sich nun, wiederum «gleichsam», als Nachfolger, wenn nicht als Nachahmer erweisen.
Zugegeben: Mehr als ein Gedankenspiel ist das nicht, und sicherlich haben andere Schreibende beim Lesen den gleichen irrigen Eindruck bekommen – dass da jemand vor hundert oder dreihundert Jahren genau das gedacht und aufgeschrieben hat, was man, ohne Rückgriff darauf, ebensoviele Jahre danach «wiederholt» in der Gewissheit, es erstmals formuliert zu haben und folglich der ursprüngliche Autor zu sein.
​Grund zu solch verblüffenden Übereinstimmungen mag schlicht der Zufall sein, begünstigt dadurch, dass die sprachlichen Ausdrucksmittel begrenzt und deshalb auf Wiederholung oder Variation angewiesen sind. Eine einfachere, letztlich triviale Erklärung für das Phänomen mehrfacher Ursprünglichkeit und Autorschaft bietet der althergebrachte Gemeinplatz, wonach «alles schon einmal dagewesen», alles schon einmal gesagt und geschrieben worden sei.

 

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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