Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Vom Leitwortstil in der Lyrik (Teil 1)

Vom Leitwortstil in der Lyrik

 

Jedes Gedicht – jedes – beginnt mit einem Wort; so klar, so trivial. In den meisten – fast allen – Fällen hat dieses erste Wort für das Gedicht insgesamt keine strukturelle beziehungsweise strukturbildende Bedeutung, es eröffnet nur einfach einen Vers, einen Satz, eine Aussage und wird danach ergänzt durch weitere Wörter, die allerdings nicht mehr gleichermassen frei gewählt werden können, da sie gewissen Vorgaben (Metrik, Melodik, Bedeutung) entsprechen müssen. „Nur ein Wort und ein Wort und ein Wort», so liest man es bei Marie Luise Kaschnitz (in Die Gärten): «Wahllos aus dem Sprachnetz gerissen / Zueinander geschleudert / Umarmen sich / sind sogleich eine / Sind eine Welt.“
Das jeweils erste Wort des Gedichts, so könnte man vielleicht sagen, ist gegeben, meist als Zufallsfund, während der nachfolgende Text gemacht werden muss. Das Machen ist dem Gegebenen naturgemäss nachgeordnet. Dass im Gegensatz dazu viele – die meisten – Verfasser von Gedichten nach eigenem Bekunden beim Schreiben ganz anders verfahren, nämlich von Gefühlen, Stimmungen oder äussern (lebens- und zeitgeschichtlichen) Anstössen ausgehen, ändert an dieser Gegebenheit nichts: Am Anfang jedes Gedichts steht notwendigerweise ein Wort, das durchaus einer Stimmung entspringen mag, mit dieser aber keineswegs identisch ist, sondern als Sprachding seinen eigenen Status hat. Bisweilen ist dieser Status mit einer besondern Funktion verbunden, dann nämlich, wenn das Wort als Leitwort eingesetzt wird und als solches die Klang- wie auch die Bedeutungsebene des daraus erwachsenden Gedichttexts mitbestimmt. Die Leitwortfunktion muss in jedem Fall von einem der ersten Wörter des entstehenden Texts oder von dessen Titel (Titelwort) übernommen werden – allein mit solchem Vorrang kann das jeweilige Wort den nachfolgenden Vers- und Strophenverlauf tatsächlich leiten.

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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