Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Vom Ungenügen der Sprache (Teil 1)

Vom Ungenügen der Sprache

 

Ich sage mal exprompt und auf eigenes Risiko:

Es gibt zu viele Sprachen, aber zu wenig Sprache.

Rund 10’000 Sprachen, Dialekte eingeschlossen, werden hienieden noch gesprochen, und doch reicht der Wortbestand aller Sprachen nicht dazu aus, alles konkret Vorhandene zu benennen.
Dieses Defizit vergrössert sich zur Zeit rasant unterm Druck von Global English, dem zahlreiche «kleine» beziehungsweise «mindere» Sprachen und Sprachfamilien unmerklich zum Opfer fallen; und nicht nur das – die Sprachkompetenz insgesamt nimmt ab und damit naturgemäss auch die Fähigkeit zu differenziertem (oder gar produktivem) Einsatz sprachlicher Mittel, wie das Wörterbuch oder die Grammatik sie bereithält, von der Stilistik gar nicht erst zu reden.
Doch auch unabhängig von diesen verifizierbaren Verlusten reicht die Sprache und reichen die Sprachen, selbst wenn sie insgesamt Abermillionen von Einzelwörtern (Begriffen, Namen) zur Verfügung halten, nicht aus, um alles, was ausserhalb der Sprache und vor dem sprachlichen Ausdruck konkret gegeben ist, auch nur annähernd vollständig zu benennen und eindeutig zu bestimmen.
Wenn demgegenüber Heidegger mit Stefan George uns weismachen will, «kein Ding sei wo das Wort gebricht», ist dies offenkundig eine Fehleinschätzung; denn die Sprache vermag nichts Aussersprachliches zu schaffen, keinerlei Ding, nichts konkret Fassbares – sie benennt es nur (beschwört, verflucht, verleugnet, feiert es), kommt insofern stets hinter dem her, was sie wie auch immer artikuliert.

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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