Wenn ein Dichter die Dichtung verabschiedet
«Mein Fall ist, in Kürze, dieser», expliziert Hugo von Hofmannsthal in seinem poetologischen Chandos-Brief von 1902: «Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.» Geschweige denn zu schreiben.
Als Grund für diese fundamentale Ideen- und Sprachkrise nennt der Autor, der hier in der Rolle und Verkleidung eines englischen Aristokraten der Shakespearezeit auftritt, seine zunehmende Unfähigkeit, Reales von Fiktivem, Natur von Kultur, Musik von Algebra zu unterscheiden und sich selbst, in seiner Gespaltenheit, als Individuum wahrzunehmen.
Angesichts der Unüberschaubarkeit und Uneinsehbarkeit der Aussen- wie der Innenwelt verliert der sorgsam kostümierte Lord Chandos seine Contenance und setzt zu einem kulturskeptischen Statement an, das die hergebrachte europäische Zivilisation insgesamt in Frage stellt und jedes literarische Tun für untauglich, mithin für überflüssig hält.
Chandos kann, seinem Willen und seinen Fähigkeiten zum Trotz, nicht mehr schreiben, und es ist mehr als eine Schreibblockade, die ihn daran hindert. Der vertraute, gekonnte Umgang mit der Sprache ist ihm «abhanden» gekommen. Statt dessen rücken ihm nun die Dinge näher, Stimmungen und sinnliche Erfahrungen erlebt er intensiver, so wie er überhaupt das Leben endlich in seiner Fülle wahrzunehmen, es in sich zu bewegen, es als sein Leben zu erfahren vermag, nachdem er dessen Qualitäten und Umstände zuvor lediglich in Form von kunstvollen Worthülsen umschrieben, damit aber – notwendigerweise – auch verfehlt hat.
Daraus folgt sein «Lieblingsplan»: Jenseits «des Geheges der rhetorischen Kunststücke» die Dinge selbst, in ihrer vielsagenden Stummheit, zum Sprechen zu bringen. Da-sein statt be-deuten. Beredtes Schweigen der Dingwelt als solcher statt deren Objektivierung durch Beschreibung, Erläuterung, Bewertung.
«Denn es ist ja etwas völlig Unbekanntes und wohl auch kaum Benennbares, das in solchen Augenblicken, irgendeine Erscheinung meiner alltäglichen Umgebung mit einer überschwellenden Flut höheren Lebens wie ein Gefäss erfüllend, mir sich ankündigt», expliziert Lord Chandos; jeder beliebige Gegenstand, über den man sonst gleichgültig hinwegsehe, könne plötzlich von sich aus «ein erhabenes und rührendes Gepräge annehmen», das in Worten nicht wiederzugeben sei – ihm werde «die unbegreifliche Auserwählung zuteil, mit jener sanft und jäh steigenden Flut göttlichen Gefühles bis an den Rand gefüllt zu werden». Und es kommt in ihm das erhebende Gefühl auf, «als könnten wir in ein neues, ahnungsvolles Verhältnis zum ganzen Dasein treten, wenn wir anfingen, mit dem Herzen zu denken».
Mit dem Herzen denken, das ist ein vorbegriffliches, noch wortloses Denken, das folglich an keine vorgegebene Sprache – «weder die lateinische noch die englische noch die italienische und spanische» – gebunden und von ihr diszipliniert ist, «eine Sprache, von deren Worten mir auch nicht eines bekannt ist», betont Chandos, «eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen, und in welcher ich vielleicht einst im Grabe vor einem unbekannten Richter mich verantworten werde». Man darf sich wundern darüber, dass Hugo von Hofmannsthal seine Sprachnot mit solch wortreicher Rhetorik beschwört, wenn nicht gar heraufbeschwört.
… Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
Schreibe einen Kommentar