Wenn ein Dichter die Dichtung verabschiedet
Teil 1 siehe hier …
Hugo von Hofmannsthal alias Lord Chandos hat mit seinem fiktiven Brief an Francis Bacon ein Gründungsmanifest der dichterischen Moderne ausformuliert, das die Sprachskepsis als poetologisches Prinzip zur Geltung bringt und die Sprachnot allgemein geradezu pathetisch in Worte fasst. Fraglich ist aber, ob dies tatsächlich seiner Absicht entsprach oder ob die von ihm so wortreich evozierte Sprachkrise nicht eher durch private Umstände bedingt war. Denn als er den Text niederschrieb, hatte er eben erst entschieden, sich als freier Schriftsteller zu etablieren und gleichzeitig eine Familie zu gründen. Die baldige Geburt eines ersten Kinds wie auch die ungewohnten Anforderungen des Literaturbetriebs scheinen seine psychische Befindlichkeit damals schwer gestört zu haben, und womöglich ist der Chandos-Brief eher in Reaktion auf diese vordergründigen Störungen denn auf die epochale Ausdruckskrise entstanden.
Tatsache ist, dass Hofmannsthal schon wenig später seine Zweifel an Sprache und Dichtung überwunden hat und auch nie wieder mit vergleichbarer Skepsis darauf zurückgekommen ist – sein nachmals entstandenes umfangreiches Werk lässt über fast drei Jahrzehnte hin von jener frühen Krise jedenfalls nichts mehr erkennen.
Bereits 1903, nur ein Jahr nach dem Brief, markierte Hofmannsthal, mit Berufung auf Goethe, Hebbel und George, eine andere, durchaus konventionelle Position in seinem «Gespräch über Gedichte», das nun der poetischen Wortwelt klaren Vorrang gab vor der stummen Dingwelt, denn es sei «gerade die Poesie, welche fieberhaft bestrebt ist, die Sache selbst zu setzen, mit einer ganz anderen Energie als die stumpfe Alltagssprache, mit einer ganz anderen Zauberkraft als die schwächliche Terminologie der Wissenschaft».
Das dichterische Wort versagt also keineswegs vor der realen Welt, und es benennt und bedeutet sie auch nicht nur (als Name, Vergleich, Metapher usf.), sondern behauptet sich selbst als die «Sache», für die es steht. Eben darauf beruht nach Hofmannsthal die «Zauberkraft» des souveränen («symbolischen», «hieroglyphischen») Dichterworts, dass es mit dem, was es bezeichnet, identisch ist – es macht «mit den Augen der Poesie» jedes Ding wie zum erstenmal sichtbar, «mit allen Wundern seines Daseins»: «Sind sie nicht alle schön, diese Gedichte, einfach und schön wie die schönen Muscheln mit rosigem Mund?» Konsequenterweise hätte Hofmannsthal den Vergleich («wie») an dieser Stelle meiden und sagen müssen: Gedichte sind Muscheln mit rosigem Mund!
… Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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