Wer kennt Reverdy?
Teil 4 siehe hier …
In seinem separat veröffentlichten Essay über «Die poetische Funktion» (1948) hält Pierre Reverdy fast schon feierlich fest: «Es gibt keine Wörter, die poetischer sind als andere. Denn die Poesie ist in den Wörtern nicht mehr vorhanden als in einem Sonnenuntergang oder im glanzvollen Aufkommen der Morgenröte – nicht mehr in der Traurigkeit als in der Freude. Sie besteht aus dem, wozu die Wörter werden, wenn sie die menschliche Seele erreichen, wenn sie den Sonnenuntergang oder die Morgenröte, die Traurigkeit oder die Freude in sich verwandelt haben. Sie besteht in dieser Umwandlung der Dinge durch die Kraft der Sprache und die Wechselbeziehungen, die sie miteinander haben – in ihrer Einwirkung auf den Geist und die Sensibilität.»
Sensibilität, Geist, Seele – das sind Begriffe, die man längst nicht mehr mit Poesie zusammendenkt oder gar für die Poetik in Anspruch nimmt. In der französischen wie in der deutschsprachigen Nachkriegsdichtung waren sie gang und gäbe. Gefühligkeit vor Kunstsinn. Langgässer, Loerke, Lehmann. Dann aber bald schon Benn und Bense, das Interesse für die Grammatik der Poesie, für das Gedicht als Sprachwerk, gemacht nicht aus Gefühlen, sondern aus Wörtern, Sätzen, Versen. – Dahinter bleibt Reverdy weit zurück; doch der beharrliche Ernst, mit dem er sein Schreibexerzitium entgegen rasch wechselnden Trends absolviert hat, verdient Respekt in einer (dieser) Zeit, da das Gedicht allem «Geistigen» und «Gestrigen» ziemlich abgeneigt ist.
[auf Deutsch zu lesen: Pierre Reverdy, die unbekannten augen, übersetzt und herausgegeben von Manfred Gsteiger, Bern 1969; P. R., Quellen des Windes, herausgegeben von Friedhelm Kemp, München 1970]
© Felix Philipp Ingold
aus unveröffentlichten Manuskripten
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