Wie noch lesen?
Teil 1 siehe hier …
Dass das Lesen einst ans Sprechen gebunden war, mithin als lautes Lesen praktiziert wurde, ist längst vergessen, ein Verfahren, das den zurückgezogenen Leser zu möglichst vollständiger und nachhaltiger Lektüre anhielt und ihm zusätzlich die Möglichkeit bot, das Gelesene simultan auch zu hören.
Lautes Lesen findet, seit langem schon, ausschliesslich vor Publikum statt, als Lesung, als Vortrag, meistens dargeboten vom Verfasser, von der Verfasserin des jeweiligen Texts. Das Vorlesen gewinnt in diesem Fall – durch persönliche Intonation und Rhythmisierung – einen diskret interpretativen Charakter. Der Vergleich von Autorenlesungen und Lesungen mit Sprechern oder Schauspielerinnen macht deutlich, dass und wie der Vortrag ein und dieselben Texte ganz unterschiedlich zur Geltung bringen kann.
So oder anders kann das Vorlesen literarischer Texte deren Wirkung und Verständnis stark beeinflussen. Ich erinnere mich an Oskar Pastiors näselnden Singsang, der seine hochartifiziellen, bei blossem Zuhören durchweg unverständlichen Gedichte fast schon volksliedhaft zu popularisieren suchte; an die dünne, ziemlich monotone Stimme Günter Eichs, deren Zurückhaltung den Texten um so mehr Eigenleben verschaffte; an das wundersam sanfte, mit indischem Akzent intonierte Englisch der Lyrikerin Saima Afreen, die damit – auf Lyrikline zu hören und zu vergleichen – ihre gedruckten Gedichte an Prägnanz weit übertrifft.
… Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
Schreibe einen Kommentar