Wo bleibt die Zensur?
Der russische «Zeitschriftensaal» als literarischer Freiraum
Nach sehr langer Zeit und in durchaus skeptischer Erwartung besuchte ich unlängst mal wieder die russische Internetplattform https:/05/magazines.gorky.media, die seit den mittleren 1990er Jahren unter der Bezeichnung «Zeitschriftensaal» (Žurnal’nyj zal) alle relevanten Kultur- und Literaturmagazine in Evidenz hält und zahlreiche Textauszüge in ungekürzter Fassung zugänglich macht. Mein jüngster Einblick in den «Zeitschriftensaal» hat ergeben, dass das sorgfältig aufgearbeitete Angebot inzwischen sehr viel umfangreicher geworden ist, und zwar – gleichermassen – durch die Berücksichtigung neugegründeter in- und auch ausländischer Journale, die in russischer Sprache erscheinen, sei’s im Ural oder in Sibirien, in Israel oder in den USA.
Angesichts der in Russland unentwegt sich verschärfenden staatlichen Zensur und anderer repressiver Übergriffe auf den Kulturbetrieb ist allein schon die Quantität der einschlägigen, unbehindert publizierten Periodica eine positive Überraschung, und diese wird bei genauerem Hinsehen sekundiert durch die staunenswerte intellektuelle und literarische Qualität so mancher Texte, obwohl auch hier – nicht anders als hierzulande – das Mittelmass seinen Tribut fordert. Tatsache ist jedenfalls, dass der «Zeitschriftensaal» Tausende von Druckseiten auf aktuellem Stand in Volltext bereithält und dass dieses Angebot das Beste mit sich bringt, was derzeit auf Russisch zu lesen ist, Lyrik und Prosa wie auch literarische, historische, politische Essayistik.
Auf der Homepage der Plattform hält die Redaktion dezidiert fest: «Der ‘Zeitschriftensaal’ meidet die Zusammenarbeit mit Presseorganen, deren Veröffentlichungen Kriegs- und Gewaltpropaganda enthalten oder religiöse, rassistische und nationalistische Intoleranz erkennen lassen.» Das ist ein klares, wenn auch implizit gehaltenes Statement gegen die offizielle Kampfrhetorik, und man kann sich nur wundern, dass solche Aussagen, die selbst den verbotenen Begriff «Krieg» artikulieren, im russischen Internet frei zugänglich sind: Der «Zeitschriftensaal» ist zu einem Podium offener regierungskritischer Debatten geworden und präsentiert – in Übereinstimmung mit der landesweiten literarischen Presse – eine Meinungsvielfalt, die gleichzeitig von den staatlichen Medien und den Zensurbehörden unterdrückt wird.
… Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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