Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Zum Ende schreiben (Teil 10)

Zum Ende schreiben

Teil 9 siehe hier

Noch ein Extrakt, diesmal aus «da ich morgens und mossgrün. Ans Fenster trete» (2020):

bin in einen Zustand zarter Verwahrlosung geraten, sage ich, ich war verwundert dasz deine lila Schwertlilien ich meine die lila Struktur deiner Fingernägel sich der Struktur deiner Zehennägel angeglichen hatte, ebenmäszig und tirolisch, Hölderlin sagt ‹der Gesang kaum darf es erfüllen› womit er den Gesang der Vögel im sprieszenden Jahr usw. meinte

die Ohren oder mein Engadin, o du mein Engadin wie v. Schnee, die Nylons oder mein Engadin, Stendhal hat geweint beim Schreiben, hat beim Schreiben geweint, sagst du

Das Zitat könnte genau so gut einem der andern letzten Bücher von Friederike Mayröcker entnommen sein (kolloquiale Intonation, fahriger Stil, agrammatische Syntax, disparate Motivik, irreguläre Rechtschreibung) – alles ein Gleiches, und doch irgendwie unverwechselbar.
Als einzige Notwendigkeit regiert hier der Zufall: Quasi glossolalisches Daherreden über alles, was Sehen, Hören, Lesen, Erinnern, Assoziieren in diesem Augenblick des Lebens gerade so erbringen. Von daher vielleicht tatsächlich lebensrettend beziehungsweise den Tod aufschiebend; und dazu passend (dazu womöglich verhelfend) die permanenten Anrufungen toter wie lebender Herzensfreundinnen, Schreibkollegen, Meisterdenker, Gross- und Kleinkünstler – von Rubens und Ponge bis Jandl, von Reichert bis Kolleritsch und Frl. M. und Bodo Hell; und immer wieder: Du, Du, Du …
So als wollte, als müsste sich die Autorin vergewissern, ob sie noch in Rufweite ihres Personals sei – ihrer Traum-, ihrer Gedächtnis-, ihrer Lebensmenschen.

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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