Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Zum Ende schreiben (Teil 11)

Zum Ende schreiben

Teil 10 siehe hier

Man könnte diese (gleichsam) sich selbst verfertigende Dichtung durchaus tragisch finden, könnte sie als das unablässige Gebet – oder die Beichte – einer Ungläubigen verstehen, die weiss, dass es keinen Gott gibt, und dennoch nicht aufhören kann, auf eben diesen nicht existierenden Gott einzureden. Doch um was zu erwirken? Um von ihm am Leben gelassen zu werden? Friederike Mayröcker schreibt gegen jede Vernunft, und sie tut es so selbstgewiss und rücksichtslos, als könnte sie sich auf einen festen Glauben verlassen – ja, auf den Glauben an die Schrift und an das Schreiben als unerschöpfliches Elixier des Lebens. Dass sie damit bei der Kritik wie bei einem breiteren Publikum vorbehaltslose Anerkennung und so etwas wie eine Fangemeinde gewann, ist angesichts ihrer rational kaum nachvollziehbaren Texte ebenso bemerkenswert wie die Tatsache, dass ein Grossteil deutschsprachiger Dichtung seit nunmehr drei, vier Jahrzehnten sichtlich in ihrer Nachfolge steht – à la Mayröcker zu schreiben, ist auch heute noch gang und gäbe, während eine Ilse Aichinger weiterhin schwerlich über den engen Kreis ihrer Bewunderer hinauswirkt. Was daraus zum Verständnis der aktuellen Schreibkultur und des Leseverhaltens abzuleiten ist, sollte vielleicht einmal kritisch bedacht werden.

Friederike Mayröcker, «études» (2013), «cahier» (2014), «fleurs» (2016), «Pathos & Schwalbe» (2018), «da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete» (2020, 32021); alles bei Suhrkamp Berlin.

 

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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