GALILEI
Für Reinhold Grimm
Liegt nicht eine Ironie darin, daß ich, der ich den Kosmos tausendfach erweitert habe, nun auf die Dimensionen meines Leibes beschränkt bin?
Der erblindete Galileo Galilei
Dies sind meine Finger, meine Arme, meine Knie.
Hier ist mein Gesicht. Diese lichtlosen Höhlen
sind meine Augen. Ich befühle den zuckenden Wurm
an meiner Schläfe. Ich betaste mein nutzloses
Geschlecht. Ich lausche dem verworrenen Gemurmel
meines Herzens. Diese monotonen Untersuchungen
ergeben die Definition meines Gefängnisses.
Mein Gefängnis ist kleiner als meine Zelle.
Jenseits meines Körpers ist die Welt.
Ich glaubte sie auswendig zu kennen,
aber ich fange an, sie zu vergessen. Meine Freunde
(die mich nicht mehr besuchen dürfen)
sagten stets, ich trage das Universum in meinem Schädel.
Vielleicht haben sie recht. Das würde erklären, warum
es der Welt in mir so vor dem Untergehn graut, obwohl
ich selber mich nicht vor dem Sterben fürchte.
Aus diesen schwarzen Schlitzen unter meiner Stirn
sah ich einst Sterne, kreisende Planeten und
die bewegungslose Sonne. Und über den Sternen, die
ich sah, sind ungesehene Sterne, jenseits des Firmaments
sind Firmamente, die nie vom Himmel hörten. Um die Sonne
muß sogar die Hölle kreisen, die einmal nordwärts, einmal
südwärts zeigt. Das macht mich lachen.
Der arme Teufel!
Ich werde meinen Widerruf widerrufen, eh ich
sterbe. Wenn ich schon halb hinüber bin.
Vorläufig hab ich noch mein warmes Essen, die Wohltat
meines Lagers, den Kübel. Wie schnell man
wieder Tier wird! Mein ganzer Kosmos ist nun
ein fensterloser Raum; kein Windzug, kein
Flackern der Kerze. Ich brauche meine Augen
nicht zu schließen, um es dunkel zu haben.
Hier sind meine zerfurchten Wangen, mein schütteres
Haar, mein struppiger Bart. Haare wachsen mir aus
der Nase, aus den Ohren. Ich bin eine verrunzelte
Zwetschge geworden, dicht am Kern. Mich friert’s.
Ich werde in mein Bett zurückkriechen – und
träumen. Herr, wie lang noch diese ewige
Wiederkehr des Gestern? – Hier ist mein Bauch
und dies ist mein Arsch. Ich krümme mich
tagtäglich näher meinem Schatten zu. Wachträume
rauben mir den Schlaf. Mir träumt, ich segle
auf einem Mondstrahl in den Weltraum, über die Milchstraße
hinaus, verloren selbst dem Teleskop, das ich
erfand. Meine Augen – weit offen und von Licht
erfüllt – verfolgen die plumpe Erde, wie sie
um die Sonne kreist, und meine Ohren lauschen der
Musik der Sphären, durchbrochen von meinem
triumphalen Schrei:
aaaaaaaaaaaaaaaaaEppur si muove!
Übersetzung Felix Pollak
Mit der vorliegenden Auswahl und Übersetzung von über siebzig Gedichten kehrt einer der bedeutendsten und gleichwohl hierzulande noch immer am wenigsten bekannten Lyriker des Exils nach einem halben Jahrhundert postum, aber endgültig in seine angestammte, ihn bis zuletzt unauslöschlich prägende Umwelt heim. Der vorliegende Band ist die erste Buchveröffentlichung Felix Pollaks in deutscher Sprache. Ihr gingen nur einige Einzeldrucke seiner Gedichte in Zeitschriften voraus. Oder bedurfte dieser Dichter am Ende gar keiner Heimkehr? Sein großes dreiteiliges Gedicht „Der Finger“, das die zwei Grunderfahrungen und -themen seines Lebens und Schreibens, die der Emigration und die der allmählichen Erblindung, auf unnachahmliche Weise miteinander verknüpft, trägt ein Motto von Alfred Polgar, welches lautet:
Die Fremde ist nicht Heimat geworden. Aber die Heimat Fremde.
Und auf den Bereich des Lebens traf beides in mancherlei und sehr schmerzlicher Hinsicht zu, obschon in ihm ebenfalls eher eine tiefgreifende Ambivalenz waltete. Für den Bereich der Sprache jedoch galt es nicht.
Was mich, als ich Felix Pollak vor über zwanzig Jahren kennenlernte, sofort frappierte und stets am meisten beeindruckt hat, war seine vollendete Beherrschung des amerikanischen Englisch bei genauso vollkommener und ganz selbstverständlicher Bewahrung des österreichischen Deutsch (nicht ohne eine unverhohlene, ja genüßliche Wiener Prägung) bis in dessen subtilste Nuancen und Feinheiten hinein. Dies, wohlgemerkt, nach einem Menschenalter im Exil! Pollak blieb, mit seinem geliebten Landsmann Karl Kraus zu reden, „in dem alten Haus der Sprache wohnen“, auch nachdem er das neue, ihm zunächst gänzlich unvertraute auf einem fremden Kontinent nicht bloß bezogen, sondern rasch und souverän sich zu eigen gemacht hatte. Er zählte sich allerdings, anders als Kraus, keineswegs zu den „Epigonen“, so sehr ihm Geschichte und geistiges Erbe am Herzen lagen: er fühlte sich durchaus unbefangen und frei und war schöpferisch im Englischen wie im Deutschen. Pollaks absolute Doppelsprachigkeit, die ihn befähigte, sich gegen Ende seines Lebens selbst als Lyriker wieder mühelos seiner Muttersprache zu bedienen, ist etwas höchst Ungewöhnliches, fast Einzigartiges. Ich kenne keinen vergleichbaren Fall.
Lebenslauf und Schicksal des Emigranten sind dagegen typisch für seinesgleichen. Felix Pollak wurde am 11. November 1909 als Sohn gebildeter, gutsituierter jüdischer Eltern in der Hauptstadt des morschen, äußerlich freilich noch glänzenden Habsburgerreiches geboren und verbrachte dort (und während der Sommerferien bei den Großeltern in Marienbad) eine sorglose Kindheit und Jugend. Als Gymnasiast begann er mit ersten Schreibversuchen, wurde gelegentlich, vor allem in Tageszeitungen, gedruckt und erhielt mit siebzehn Jahren sogar einen kleinen Preis für eine Kurzgeschichte. Nach der Matura schrieb er sich an der Universität Wien ein, um auf Wunsch des Vaters Jura zu studieren; parallel dazu besuchte er – denn sein eigentliches Ziel war bald, Regisseur oder Schauspieler zu werden – das berühmte Theaterseminar Max Reinhardts. Obwohl Pollak die Vorbereitung auf seinen ,Brotberuf‘ nicht vernachlässigte, spielte damals bereits seine künstlerische Neigung die ausschlaggebende Rolle. Mitte der dreißiger Jahre schien es dann, als sei die Entscheidung gefallen: Reinhardt übertrug ihm bei den Salzburger Festspielen die Regie einer Freilichtaufführung von Shakespeares Sommernachtstraum. (Vom Erlebnis dieser Inszenierung mit den jungen Elevinnen und Eleven des Seminars, seinem ersten und einzigen Bühnenerfolg, zehrte Felix Pollak bis ins hohe Alter.)
Der Einmarsch von Hitlers Truppen in Österreich, der sogenannte „Anschluß“ im März 1938 mit allem, was sich daraus ergab, unterbrach Pollaks zweifachen Entwicklungsgang jäh. Gewiß, seinen Wiener Doktorhut, den er nicht missen wollte, vermochte er sich nach dem Krieg zu guter Letzt noch zu holen; doch seiner Arbeit am Theater, dem außer dem Schreiben auch späterhin seine Liebe gehörte, mußte er auf immer entsagen. In jenem verhängnisvollen Frühjahr gab sich Pollak keinerlei falschen Hoffnungen hin. Nicht nur als Jude, auch als überzeugter Antifaschist war sich der Achtundzwanzigjährige von vornherein darüber im klaren, daß es für ihn hieß, die Heimat auf schnellstem Wege zu verlassen. Aber es dauerte Monate, ehe es ihm gelang, dem – wie er noch rückblickend sagte – „tödlichen Gefängnis“ buchstäblich in letzter Minute, mit dem Gegenwert von nicht einmal fünf Mark in der Tasche, über Paris und London zu entrinnen.
Im Dezember 1938 kam er endlich im New Yorker Hafen an. Sein im Sommer darauf verfaßter Bericht „New York, ein Schiff, ein Emigrant“ (ein Text, der nach vier Jahrzehnten in der Zeitschrift Akzente veröffentlicht wurde) hält seine Eindrücke, seine Stimmung, seine ersten tastenden Schritte fest. Mittellos und der Sprache nicht mächtig, wie so viele seiner Leidensgenossen, war Pollak gezwungen, sich dennoch irgendwie durchzuschlagen. Er tat es schlecht und recht, indem er als Doughnut-Bäcker aushalf, mit Damenstrümpfen hausierte und zwischendurch in einer Fabrik arbeitete… bis er schließlich, durch Vermittlung des Jewish Refugee Committee, eine Anstellung an der Public Library der Stadt Buffalo im Norden des Staates New York fand. Sie war mehr als bescheiden: Pollaks Wochenverdienst belief sich am Anfang auf ganze neun Dollar.
Um seine Stellung und sein ,Gehalt‘ aufzubessern, begann Felix Pollak nebenher Bibliothekswissenschaft zu studieren. Im Kriegsjahr 1943 wurde er eingezogen und erwarb sodann die amerikanische Staatsbürgerschaft; nach seiner 1945 erfolgten Entlassung aus dem Militärdienst – hauptsächlich als Dolmetscher in Lagern mit deutschen Gefangenen im Süden des Landes – konnte er dank der „GI Bill“, die ehemaligen Angehörigen der Streitkräfte die entsprechenden Mittel verschaffte, sein Studium fortsetzen und mit dem Magistergrad abschließen. Und kaum hatte er von der University of Michigan in Ann Arbor sein Diplom eines Master of Library Science empfangen, als auch schon ein Ruf an die Northwestern University in Evanston, einem Vorort von Chicago, an ihn erging. Volle zehn Jahre, von 1949 bis 1959, wirkte Pollak als Curator of Special Collections an der dortigen Bibliothek. Auf diese Zeit und seine nun nicht mehr bloß wissenschaftliche, sondern bereits literarische Tätigkeit (in englischer Sprache) bezieht sich auch eine Schilderung seiner äußeren Erscheinung, und zwar aus der Feder der Schriftstellerin Anaïs Nin, die er 1955 zu einer Lesung an das „Harvard des Mittelwestens“ eingeladen hatte. „He looked like his handwriting, small, delicate, with big, sad Spanish eyes, a gentle smile, the hands of a violinist“, erzählt Nin im fünften Band ihrer in Deutschland nicht unbekannten Tagebücher.
Daß sie Pollak nicht allein große Augen und ein sanftes Lächeln, eine zierliche Gestalt und die zarten Hände eines Geigenspielers zuschreibt und des weiteren seinen kakanischen Charme, seine Höflichkeit und Zurückhaltung hervorhebt – was alles völlig berechtigt und richtig ist –, sondern ihn darüber hinaus ein bißchen zum altspanischen caballero triste stempelt, muß man wohl ihrer eigenen iberischen Herkunft zugute halten. Ohnehin ist ihr Tagebucheintrag nicht das einzige Zeugnis dieser Art, das wir besitzen. Auch Henry Miller und der neben Robert Frost und E.E. Cummings, Carl Sandburg und Wallace Stevens sprachmächtigste und einflußreichste Dichter der amerikanischen Moderne, William Carlos Williams, befanden sich unter den frühen Förderern und Freunden Pollaks und rühmten ihn und seine Arbeit, obzwar nur in Widmungen und persönlichen Briefen.
Den rastlos Tätigen erreichte 1959 ein weiterer ehrenvoller Ruf: diesmal an die traditionsreiche University of Wisconsin in Madison, etwa 250 km nordwestlich von Chicago. Pollak nahm ihn nicht zuletzt deshalb an, weil ihm seine neue Stellung als Curator of Rare Books an der Memorial Library Madison die Möglichkeit bot, eine repräsentative Sammlung seltener Avantgardeliteratur (in deren Reihen er nunmehr selbst, insbesondere als Lyriker, immer häufiger erschien) auf- und auszubauen. Genauer gesagt, es handelte sich dabei um literarische Zeitschriften mit geringer Auflage (little magazines) und ähnliche, nicht minder schwer zugängliche Publikationen kleiner, oft umstürzlerisch gesinnter Verlage (underground presses) aus dem gesamten englischen Sprachraum, die Pollak, gestützt auf die seinerzeit eben erst aufgekauften Bestände eines Sammlers aus Minneapolis, so kenntnisreich wie unermüdlich ausfindig machte, zusammentrug und auf seinen Regalen barg. In den Essays und Aufsätzen, die er dazu beisteuerte, pries er die „Unabhängigkeit, Streitbarkeit, ja Widersetzlichkeit“ der betreffenden Herausgeber, ihren „Geist unbegrenzter Offenheit und Empfänglichkeit für neue Ideen, Theorien und Experimente“ – kurzum, die „hartnäckige Weigerung“ solcher Rand- und Untergrundliteratur, „sich den Moden und Konventionen anzupassen“, wie er wiederholt erklärte. Diese von Felix Pollak geschaffene und anderthalb Jahrzehnte lang betreute Sammlung, die inzwischen aus über 30.000 Titeln besteht und bis in die Zeit vor der Jahrhundertwende zurückreicht, auch Erstdrucke zum Beispiel von James Joyce und Ernest Hemingway aufweist, gilt heute als eine der besten und umfassendsten in der ganzen Welt.
Im Jahre 1974 mußte sich Pollak trotz ungebrochener Arbeitskraft vorzeitig emeritieren lassen. Der Grund dafür war ein unheilbares Augenleiden, bei dem sich eine zunehmende Schwächung der Sehnerven mit grauem und grünem Star verband und das zuletzt zur fast vollständigen Erblindung führte. Pollak, der sein schweres Los mit bewunderungswürdiger Tapferkeit trug, nie viel Aufhebens davon machte und alle äußeren Hilfen und Kennzeichen wie Blindenstock oder Armbinde verschmähte, konzentrierte sich seitdem, soweit ihm dies möglich war, gänzlich auf seine literarische und publizistische Tätigkeit: er schrieb und veröffentlichte Lyrik und Prosa, gab weiterhin, in Madison und anderwärts, selber Lesungen (für die er seine Texte auswendig lernte) und war nach wie vor, ja beinahe mehr als zuvor ein beliebter, stets wacher und witziger und moralisch wie intellektuell unbestechlicher Teilnehmer an Rundfunkgesprächen und öffentlichen Diskussionen.
Auch die Freundschaft zwischen uns beiden festigte und vertiefte sich in jenen Jahren mehr und mehr. Jeden Samstagnachmittag, wann immer meine Zeit es erlaubte, ging ich zu ihm und saß mit ihm in dem zum Arbeitszimmer umgebauten Kellergeschoß seines kleinen Hauses zusammen, umgeben von Büchern und Bildern, Karteikästen und Ordnern, Briefen und Photographien, um ihm, wenn wir nicht einfach tranken und plauderten, bald aus englischen, bald aus deutschen klassischen oder modernen Schriftstellern vorzulesen. Als ich, im Zuge meiner ausgedehnteren Lehrtätigkeit als Komparatist, gleichfalls anfing, in wachsendem Maße Aufsätze und Vorträge auf englisch abzufassen, hörte er sich diese Versuche nicht bloß kritisch interessiert und geduldig an, sondern wurde unvermerkt zu meinem Mentor, ja geradezu zu meinem stilistischen Gewissen; nicht umsonst ist eine meiner längeren Studien ihm als „my best listener“ zugeeignet.
Ich sehe Felix noch vor mir: ins Sofa zurückgelehnt, den Kopf mit den lauschenden Augen hinter den unförmig dicken Brillengläsern leicht geneigt und seine weiße „Poetenkatze“ Lily, die zusammengerollt in seinem Schoß lag, nachdenklich streichelnd… Wie oft erheiterte Lily uns, wenn sie bei manchen Autoren wohlig und gleichsam beifällig zu schnurren anhob, hingegen bei anderen nach einer Weile unmutig zu Boden sprang und unter deutlich mißbilligendem Miauen das Zimmer verließ! Ihr literarischer Geschmack war so unfehlbar wie das Stilgefühl ihres Herrn.
Aus diesem wöchentlichen Zusammensein entwickelte sich zusätzlich im Laufe der Zeit eine enge Zusammenarbeit. Wir machten uns nämlich daran, deutsche Gegenwartslyrik – vor allem von Hans Magnus Enzensberger, daneben von Günter Kunert und Marie Luise Kaschnitz – ins Englische zu übertragen und zumeist in amerikanischen, mitunter auch britischen Zeitschriften zu veröffentlichen. Felix Pollak hatte zwar schon vorher Gedichte und vereinzelt Prosa aus dem Deutschen übersetzt, namentlich Texte von Heine, Rilke, Wedekind, Musil und Karl Krolow; nun aber, da er nicht mehr zu lesen und kaum noch zu schreiben imstande war, betrieben wir das Geschäft des Übersetzens, das ebenso lehrreich und fesselnd wie vielfach höchst schwierig ist, gemeinsam. Nicht verschwiegen sei, daß Enzensberger, dessen briefliche Bekanntschaft ich dem Freund noch vermitteln durfte, die große und völlig unverhoffte lyrische Entdeckung von Pollaks letzten Lebens- und Schaffensjahren bedeutete. Der Ältere wurde nicht müde, die bildschöpferische Phantasie und sprachliche Prägnanz, nüchterne Leidenschaftlichkeit und luzide Intellektualität des Jüngeren zu bestaunen und mit immer neuen Worten zu loben. Umgekehrt aber schätzte der sonst ja recht skeptische Verfasser der Sammlung Blindenschrift, und nicht ohne ein Gran Selbstkritik, wie ich glaube, gerade die den Motiven der Erblindung und Blindheit gewidmeten Spätgedichte Pollaks ganz außerordentlich, von denen er seinerseits dann einige (sie erschienen erstmals in den Akzenten und sind im vorliegenden Band enthalten) ins Deutsche übertrug.
Persönlich begegnet sind die beiden einander leider niemals, selbst nicht im Sommer 1987, als Felix Pollak, begleitet von seiner Frau Sara, eine mehrwöchige Lese- und Vortragsreise durch Westdeutschland unternahm und im Anschluß daran seine Heimatstadt Wien noch einmal besuchte. Diese Reise, mit Lesungen und Debatten, Erinnerungsberichten und Interviews in verschiedenen Universitäten und Rundfunkanstalten, wurde für Pollak – nicht zum wenigsten durch die Begeisterung der zahlreichen jugendlichen Zuhörer – zu einem triumphalen, den nunmehr fast Achtundsiebzigjährigen aufs tiefste beglückenden Erfolg, den er gewissermaßen als Krönung seiner schriftstellerischen Laufbahn empfand. Felix Pollak kehrte auch keineswegs erschöpft nach Wisconsin zurück; im Gegenteil, er fühlte sich vielmehr, wie er in seinen autobiographischen Notizen festhielt, „erfrischt und wie neubelebt“.
So mochte es ihm zeitweilig scheinen. Denn schon beim Abflug von Europa hatte er nicht nur geahnt, sondern zuinnerst gewußt, daß er diesen Erdteil, dem er auf so widersprüchliche Weise verhaftet war und den er nach dem Krieg immer wieder aufgesucht hatte, nicht wieder betreten würde. Bei seiner Rückkehr nahmen wir unsere Arbeit zwar erneut auf; doch als ich ihn nach längerer Abwesenheit – ich hatte auf auswärtigen Tagungen zu sprechen – Ende Oktober wiedersah, fand ich ihn, wie er mir unter der Tür zögernd entgegentrat, plötzlich erschreckend verändert. Erst jetzt kam es mir voll zum Bewußtsein, daß Pollak, ganz abgesehen von seiner Erblindung, seit Jahren bereits ein schwerkranker Mann gewesen war. In den nächsten Wochen verschlechterte sich sein Befinden, unter quälenden Schmerzen, rapide; aber auch dies ertrug er wie alles; klaglos und gefaßt. Noch bei unserem letzten Zusammentreffen, am Vorabend seiner Einlieferung ins Krankenhaus, bestand er mit leiser Entschiedenheit darauf, gemeinsam eine neue Übersetzung in Angriff zu nehmen. Fünf Tage später, am 19. November 1987, ist Felix Pollak in Madison gestorben.
Sein überwiegend lyrisches Œuvre umfaßt mit Einschluß des 1988 postum erschienenen, aber von ihm noch vorbereiteten Sammelbandes Benefits of Doubt, auf dem auch die vorliegende, gleichfalls noch von ihm selbst besorgte Auswahl beruht, insgesamt sieben Bände. Der erste von ihnen, The Castle and the Flaw, kam im selben Jahr 1963 heraus, in dem sich – bittere Ironie des Geschicks! – die ersten Symptome seines unheilbaren Augenleidens bemerkbar machten. Veröffentlicht allerdings (oder, besser gesagt, aufs neue veröffentlicht) hatte Felix Pollak schon seit Mitte der fünfziger Jahre: nun zwar durchweg auf englisch und in amerikanischen Zeitschriften, jedoch trotzdem, bezeichnend genug, unter seinem noch aus Österreich stammenden Pseudonym Felix Anselm, das er nicht vor dem Erscheinen des erwähnten Erstlingsbandes lüftete, um es dann freilich ein für allemal aufzugeben.
An diese überaus erfolgreiche Sammlung seiner frühen, indes bereits völlig ausgereiften Gedichte in englischer Sprache – sie erzielte ein Halbdutzend Auflagen – schlossen sich im Abstand von jeweils etwa fünf Jahren vier weitere Gedichtsammlungen, die ebenfalls mehrmals aufgelegt wurden. So erschien 1969 der Band Say When, 1973 (mit ergänzenden Übersetzungen) der Band Ginkgo, 1978 der Band Subject to Change und 1984 (wiederum mit Übersetzungen) der Band Tunnel Visions. Dieses letzte Buch Pollaks, das zu seinen Lebzeiten gedruckt wurde, ist zugleich dasjenige, welches die Erblindungserfahrungen des Dichters fortwährend in Versen, aber auch in Kurzprosa umkreist und durchdringt und dadurch formend überwindet.
Ganz dem Prosaschaffen vorbehalten war unmittelbar vorher die wortspielerisch betitelte Sammlung Prose and Cons von 1983 gewesen. Daneben sind gewichtige Beiträge aus Pollaks Feder in Anthologien wie Perspectives on Pornography (1970) oder, schwerlich sehr überraschend, The Little Magazine in America (1978) enthalten. Was die Einzelveröffentlichungen Pollaks in Zeitschriften angeht – Aphorismen und erzählende Texte, ferner literatur- und kulturkritische Essays, ja selbst politische Stellungnahmen befinden sich darunter –, so dürfte ihre Gesamtzahl gut über hundert betragen.
Obwohl die Prosaschriften durchaus eigenständig sind und Beachtung verdienen, überwiegt im Werk Pollaks, keineswegs nur quantitativ, das lyrische Schaffen bei weitem. Er hat auch nicht zufällig testamentarisch verfügt, daß aus seinem Nachlaß ein Felix Pollak Prize in Poetry zu stiften und alljährlich zu vergeben sei. Dieser ungesäumt von seiner Witwe begründete Preis, den die University of Wisconsin verwaltet und der im Herbst 1988 erstmals verliehen wurde, stellt zudem, will mir scheinen, ein ebenso schönes wie bleibendes Denkmal der von Pollak trotz aller Umdüsterung treu bewahrten Daseins- und Zukunftsoffenheit dar; er symbolisiert und konkretisiert jene Freundlichkeit, Wärme und Aufgeschlossenheit, die sein Stifter nicht bloß den Jungen und Nachgeborenen und deren Versuchen, sondern überhaupt jedwedem Kühnen und Keimenden in Leben wie Literatur entgegenbrachte. Gleich Galilei, dessen Forscher- und Blindenschicksal Felix Pollak so anders als Bertolt Brecht und dennoch nicht minder unvergeßlich gestaltet hat, konnte dieser Dichter weder altem Wein noch neuen Gedanken auf Dauer widerstehen. Dabei war er selbstredend, auch und gerade als Lyriker, in sämtlichen Zonen und Traditionen der Weltliteratur nicht nur bewandert, sondern wahrhaft zu Hause. Kunstvoll verschlungene romanische Reimstrukturen und Strophengebilde wie das Sonett oder Rondeau handhabte, meisterte und entfaltete er genauso überzeugend wie das der Antike und Aufklärung verpflichtete Epigramm öder die evokative Lakonik, die körnige, bald bezaubernde und bald beschwörende Gedrängtheit und schlanke Anmut des japanischen Haiku oder Hokku.
Zugegeben, Pollak hat jene komplizierten, von ihm vor allem in seinen (englischen) Anfängen gepflegten Reim- und Strophenanordnungen bei der Zusammenstellung seiner zu übertragenden Texte, die für Verlag und Herausgeber verbindlich war, weniger berücksichtigt; statt dessen hat er die seine späteren Bände und erst recht dann den Auswahlband Benefits of Doubt kennzeichnende, bloß scheinbar leichtere und bequemere Gattung der „reimlosen Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen“ (Brecht) bevorzugt und innerhalb dieser ganz besonders, obschon beileibe nicht ausschließlich, die Untergattung des durchkomponierten, oft zum mehrteiligen Zyklus ausgeweiteten Erzählgedichts.
Die für ihn und sein Schaffen charakteristische Thematik aber hat Pollak, mitsamt der entsprechenden Motivik, in ihrer gesamten Breite und Mannigfaltigkeit ungeschmälert zu Wort kommen lassen. Sie, die sich um sein zweifaches ,Urerlebnis‘ als jüdischer Emigrant – ein Trauma, das ihm nach eigener Aussage „unaufhörlich gegenwärtig“ blieb – und als langsam, doch unaufhaltsam Erblindender lagert, ohne sich im geringsten darauf zu beschränken, ist in vollem Umfang und aller Vielschichtigkeit in die vorliegende Gedichtauswahl eingegangen. Und dasselbe gilt für sein von ihm stets auch als Handwerk verstandenes Dichtertum, namentlich seine künstlerische Gewissenhaftigkeit und sein sicheres, ja untrügliches Gespür für sprachliche Präzision und Ökonomie, anschauliche Bilder und lebendige Tonfälle; das gilt gleichermaßen für die reiche Skala der Gefühlsimpulse und Denkanstöße, Stimmungen und Haltungen, die sein jeglicher Willkür wie jeglicher Sentimentalität abholdes poetisches Verfahren im Leser oder Hörer zu wecken vermag. Grazie, Witz und Humor stehen der Lyrik von Felix Pollak nicht minder zu Gebote als ätzender Sarkasmus und unbarmherzige Satire; sie weiß Lächeln und Heiterkeit und manchmal sogar so etwas wie wilden Überschwang ebensosehr zu vermitteln wie wehmütiges Erinnern und banges Ahnen, Einsamkeit, Schwermut und dennoch selbst jenseits von Trauer noch Trost. Wollte man sie auf eine knappe Formel bringen, so müßte man sich wohl mit paradoxen Begriffen wie Fülle der Kargheit, Geheimnis des Schlichten und Alltäglichen, durchscheinende Helle in Dunkel und Abgründigkeit behelfen und notgedrungen begnügen. Pollaks Verse besitzen die unauslotbare Klarheit wirklicher Tiefe.
Aber dieses lyrische Werk bedarf ja eigentlich keiner Erläuterung. Die hier gesammelten Gedichte – auch noch in ihrer Eindeutschung, so steht zu hoffen – sprechen beredt für sich selbst. Lediglich zweierlei sei zum Abschluß angemerkt, und zwar deshalb, weil damit jene eingangs konstatierte kreative Doppelsprachigkeit Pollaks aufs engste zusammenhängt. Denn sie war eine solche nicht etwa nur in linguistischer, sondern ganz unverkennbar auch in poetischer Hinsicht. Daraus erwuchs zum einen ein ungemein hellhöriges und verfeinertes, fast schon überempfindliches Sprachgefühl und -vermögen, wie man es insbesondere eben bei Dichtern antrifft, die als Erwachsene eine fremde Sprache von Grund auf erlernt haben und in Wort und Schrift nun verantwortungsvoll und mit höchster Bewußtheit gebrauchen. (Es äußert sich bei Pollak am auffälligsten und vielleicht sogar eindrucksvollsten, aber freilich nicht selten auch zur stillen Verzweiflung des Übersetzers, der damit konfrontiert ist, in einer nahezu zwanghaften Neigung zur sprachlichen Manipulation, zu Wortspielen und Buchstabenverschiebungen, semantischen Umpolungen und ingeniösen Mehrdeutigkeiten.) Zum andern erwuchs aus ebenjener Doppelsprachigkeit etwas weitaus Folgenreicheres, ja entscheidend Wichtiges: nämlich Pollaks Fähigkeit, einiges vom Besten und zugleich Eigentümlichsten aus dem doppelten Erbe der alten europäischen und der jungen amerikanischen Poesie in seine Lyrik aufzunehmen und dann zu fugenloser Einheit zu verschmelzen. Hans Magnus Enzensberger hat das auf Anhieb kongenial erkannt und völlig zutreffend bestimmt, als er in einem Brief Pollak, in Anlehnung an ein Zueignungswort T.S. Eliots, bewundernd als „fabbro aus der alten [will sagen, österreichischen oder Alt-Wiener] Schule“ apostrophierte, andererseits aber die „gänzlich amerikanisch, ohne Ehrfurchtsgesten“ und dergleichen verfahrende Nüchternheit und Genauigkeit des Pollakschen Dichtens lobte. Nimmt man diese „Osmose“ (so nochmals Enzensberger) mit Pollaks Sprachbewußtheit, die letztlich eine förmliche Sprachverliebtheit war, zusammen, so ergibt sich in der Tat eine einzigartige und sonst, soweit ich sehe, nirgends bezeugte Verbindung. Man könnte sie, abermals formelhaft ausgedrückt, geradezu eine Synthese aus Karl Kraus und William Carlos Williams nennen. Nicht von ungefähr zählte Felix Pollak beide zu seinen Penaten.
Williams war es auch, der bereits 1957 auf eine der frühesten Gedichtveröffentlichungen Pollaks hin (im Arizona Quarterly) spontan erklärte, es zieme sich, jeden echten und wahren Mitschaffenden „in dieser Wüste, in der wir hausen“, zu begrüßen und zu beglückwünschen, zu ermuntern und zu rühmen. „May I congratulate you on [that] piece of verse“, schrieb er dem damals noch als Felix Anselm Zeichnenden:
It is man’s duty, as it should also be his pleasure in this desert which we inhabit, to salute every poet of whom he can find anything to approve. Particularly, there is so much to praise in this short verse […].
All dies ist heute ebenso gültig wie vor über dreißig Jahren. Was William Carlos Williams seinerzeit schon anhand eines Einzelgedichts erspürte und empfand, kann der deutsche Leser nunmehr anhand der vorliegenden Ausgabe für sich entdecken: die Größe und Bedeutung der Lyrik des Exildichters Felix Pollak.
Reinhold Grimm, Spätsommer 1988, Nachwort
Das Erscheinen des ersten Buches in seiner Muttersprache hat Felix Pollak nicht mehr erlebt. Zwischen Plan, Zusammenstellung und Realisierung ist er gestorben. Ein Emigranten-Schicksal. Der gebürtige Wiener Felix Pollak, der 1938 nach dem sogenannten ,Anschluß‘ in die USA ging, ist eine Seltenheit in der Literaturgeschichte: Er vermochte sich die Sprache seines neuen Heimatlandes in einer Weise anzueignen, daß er Gedichte schuf, die in ihrer Qualität – nicht der Tonlage, aber dem Rang nach – an Rose Ausländer oder Paul Celan erinnern. Pollaks Themen sind immer wieder seine Heimatstadt Wien und seine fortschreitende Erblindung: ohne jede Larmoyanz; epigrammatisch, unpathetisch. Hans Magnus Enzensberger hat einige Arbeiten Pollaks übersetzt und in der Zeitschrift Akzente publiziert. Pollaks Bändchen The Castle and the Flaw liegt in den USA bereits in der sechsten Auflage vor. Einige Beiträge unseres Bandes Vom Nutzen des Zweifels stammen aus diesem Buch. Während einer Großdemonstration gegen den Vietnam-Krieg trug Pollak 1969 sein Gedicht „Speaking: The Hero“ vor, das anschließend um die Welt ging. Es findet sich in russischen Schulbüchern wie in japanischen. Der Band beweist, daß es – entgegen einer weitverbreiteten Meinung – in der Exil-Literatur immer noch Schätze zu heben gibt.
Fischer Taschenbuch Verlag, Juni 1989
In der höchst verdienstlichen Fischer-Taschenbuchreihe „Verboten und verbrannt / Exil“ erschienen die Gedichte von Felix Pollak, der an dieser Ausgabe noch mitgewirkt, sie aber nicht mehr erlebt hat – er starb im November 1987 in Madison/Wisconsin. Pollak, 1909 in Wien geboren, promovierter Jurist, hatte Österreich nach dem ,Anschluß‘ verlassen und in den USA eine neue Heimat gefunden. Freilich ein fraglich Wort – das Motto zum Gedicht „Finger“ zitiert Alfred Polgar:
Die Fremde is nicht Heimat geworden. Aber die Heimat Fremde.
Pollak hat gleichwohl dieses Schicksal produktiv anzunehmen vermocht und sich die Sprache des Gastlandes so zueigen gemacht, daß er in ihr Gedichte von ganz besonderem Rang schaffen konnte. Einige wurden weltweit bekannt und stehen u.a. in russischen und japanischen Schulbüchern. Dazu gehört „Speaking: The Hero“, das mit der Entgegensetzung Sie/Ich arbeitet und die Zurichtung für den Krieg als gewöhnliche Sozialisationstechnik ausstellt.
Hans Magnus Enzensberger hatte früher schon einige Texte übersetzt und in den AKZENTEN publiziert. Die vorliegende Ausgabe stellt eine Auswahl aus den sieben Bänden und dem Archivmaterial dar, auch einige wenige ursprünglich deutsche Texte gehören dazu. Diese kennzeichnen sich durch eine fast sarkastische Lakonik, von Kinderreimen ausgehend oder auch von rhetorischen Fügungen, die ein satirisches Sprachverfahren anzeigen:
Das hat es niemals gegeben.
Das ist uns niemals gelungen.
Das haben wir niemals versucht.
Das wurde uns niemals bewiesen.
Entsprechend der anglo-amerikanischen Tradition trägt Felix Pollak keine Scheu, seine Verse frei und weitschwingend sich entwickeln zu lassen und die Töne zu mischen (etwa in „Untermieter über eine Zimmerwirtin“ oder „Der Eigenbrötler“). Hübsch auch die epigrammatischen Kurzgedichte, z.B. „Wie ich in meine Falle geriet“:
Es war ganz leicht.
Ich tat bloß einen
richtigen Schritt
nach dem andern.
Pathetischer Ton kommt auf, wo die Vergangenheit lebendig wird („Vienna Revisited“). Pathos meint ja das leibliche Einstehen fürs Wort, und das gilt ganz gewiß für Felix Pollak.
Geister, trübe Formen aus Blut, beschuldigen mich daß ich lebe:
lebendig unter den Toten zu wandeln ist Schuld: darf ich haben,
was sie verloren? Der Wind taut gefrorene Schreie. Mein Schatten
schreitet, kleiner werdend, über die einstige Bühne.
Ein besonderes Thema bildet die Erblindung, der Pollak unterworfen war. Es sind dies sehr anrührende Gedichte, gerade weil Pollak dieses Schicksal so wenig larmoyant behandelt. Im Gedicht, das dem erblindeten Galilei gilt, heißt es:
Jenseits meines Körpers ist die Welt.
Ich glaubte sie auswendig zu kennen,
aber ich fange an, sie zu vergessen.
Doch ist seit den Griechen die Erinnerung als die Mutter der Musen bestimmt (Mnemosyne), und welche Bedeutung gewinnt sie unter diesen Umständen! „Meine Augen erinnern / das Vergessen des Sehens“, heißt es in einem Gedicht mit dem Titel „Realität“. Ein anderes erklärt einem Kind, „was Blindheit ist“, mit lauter Wie-Vergleichen – die schon durch die Form den Abstand zum Sehen betonen.
Es gibt Gedichte, die – wie „Astigmatismus“ – mit ihren überraschenden Bildern und Wendungen die Not vergessen lassen, aus der sie gewachsen sind. Andere sprechen diese direkt an, und dabei bleibt die schamlose Tröstung der Dichtung nicht aus: das Schicksal Pollaks verwandelt sich in eine gültige Metapher, z.B für eine Tapferkeit, die sich nun über die Texte vermittelt:
Ich gehe
auf schwankenden Drahtseilen der Erinnerung, fürchte
fehlzutreten, spüre vergessene Windstöße
schmerzhaft auf meiner Haut. Der lange Schatten
meiner Vergangenheit wächst hinter meinem Rücken
immer höher und weist nun voraus in hallende
Korridore der Angst. Ich gehe weiter
mit einer Sicherheit, die ich nicht fühle.
Alexander von Bormann, die horen, Heft 161, 1. Quartal 1991
Ein altes jüdisches Sprichwort sagt:
Je länger ein Blinder lebt, desto mehr sieht er.
Diese Sentenz, so witzig sie ist, hat sich auf eher tragische Weise im Falle des Dichters Felix Pollak verwirklicht, dessen spätere Lebensphase von unaufhaltsamer Erblindung geprägt war. Ein Schicksal, das ihn weder zu Larmoyanz noch zu Hader mit Gott oder dem Schicksal veranlaßte, sondern, indem er das wachsende Dunkel thematisierte, sein Werk bereicherte.
Ein schwacher Trost sicherlich, doch wir wissen, daß Schreiben auch Selbsttherapie sein kann, zum besseren Umgang mit eigenen Leiden befähigt. Bei Felix Pollak findet sich kein Wort von Ergebung oder Unterwerfung unter das Unabänderliche, wohl aber, etwas pathetisch formuliert, eine zum Gedicht gewordene Erfahrung, welche durch die Eigentümlichkeit des Mediums dermaßen verwandelt wird, daß sie als Erfahrung über das Krankheitserlebnis hinausgeht und Allgemeingültigkeit gewinnt.
So entsteht aus dem „Befund“, mit einem Paradoxon gesagt, aus der Sicht des Blinden ein Gedicht, das nicht weniger auf die Befindlichkeit des Gesunden zutrifft:
Ich gehe
auf schwankenden Drahtseilen, fürchte
fehlzutreten, spüre vergessene Windstöße
schmerzhaft auf meiner Haut. Der lange Schatten
meiner Vergangenheit wächst hinter meinem Rücken
immer höher und weist nun voraus in hallende
Korridore der Angst. Ich gehe weiter
mit einer Sicherheit, die ich nicht fühle.
Das Gedicht – und wenn es überhaupt noch Kriterien für Dichtung gibt, so wäre das eins – begreift jede Erfahrung als eine grundsätzliche, als eine mit der Platitüde „existentiell“ so farblos wie richtig bezeichnete. Und auf Grund dieses Umstandes wird selbst das Extremste verständlich. In Kenntnis der banalen Tatsache, daß ein Gedicht in Bildern spricht, manchmal in Bilderrätseln, welche der Übersetzung bedürfen, nehmen wir das simple Faktum der Blindheit beispielsweise nicht als solches hin, vielmehr betrachten wir es als Symbol, dem es das dahinter Verborgene zu entreißen gilt. Nicht anders lesen sich Pollaks Gedichte; selbst noch die ganz konkret vom Verlust des Augenlichts redenden, denn sie zeigen, wie einem Menschen die Welt verloren geht.
Das Buch mit dem schönen Titel Vom Nutzen des Zweifels ist selber zweifelsfrei einer der gegenwärtig wesentlichsten Gedichtbände auf dem Buchjahrmarkt der Eitelkeiten. Felix Pollak ist eine Entdeckung, die wir Reinhold Grimm, einem in den USA lehrenden deutschen Literaturwissenschaftler verdanken, von dem auch das instruktive Nachwort stammt. Der Dichter selber hat das Erscheinen seiner ersten Veröffentlichung in deutscher Sprache nicht mehr erlebt; er ist im Alter von 78 Jahren in Madison, Wisconsin, gestorben. Sein Werk zählt nicht zu den vergessenen Werken wie die anderer Emigranten, denn es ist ja erst in der Emigration entstanden und – was an sich schon ein kleineres Wunder bedeutet – hauptsächlich in Englisch geschrieben worden. Pollak hat wie kein zweiter die fremde Sprache in sich aufgenommen, um sich in ihr zu bewegen als sei sie die ihm ursprüngliche.
Geboren 1909 in Wien, studierte er Jura und promovierte dort, entkam nach dem Jahr 1938 in die USA, wo er an der Universität von Michigan Bibliothekswissenschaften studierte; er leitete von 1949 bis 1959 die Spezialsammlung der Northwestern University und bis 1974 die Sammlung seltener Bücher der Memorial Library der Universität Wisconsin: Ein Mann des Buches und der Bücher, ein Bücherwurm allerersten Ranges, den dennoch diese Tätigkeit und Vorliebe nicht zur Gedankenblässe verführte. Im Gegenteil: Seine Gedichte weisen Daseinsfülle, Dinglichkeit und Realistik auf, selbst noch in den knappen, aphorismusartigen Hervorbringungen, wie beispielsweise in dem Achtzeiler „Alte Frau“:
Ein Gerippe rührt sich
hinterm Vorhang ihrer Haut
und will heraus. Es ist allen sichtbar, doch keinerlei
Anlaß zum Plaudern;
Mittlerweile
krümmte sie sich fortwährend tiefer
und tiefer ihrem
Schatten zu.
Liest man in dem zweisprachigen Gedichtband, fragt man sich manchmal, ob die englisch geschriebenen Gedichte in ihrer Originalfassung nicht intensiver und radikaler sind als die deutschen Versionen, die zwangsläufig durch die Umständlichkeit und den Konsonantenreichtum des Deutschen der Knappheit des Englischen nie so recht entsprechen können. Zum Vergleich sei hier das obige Gedicht noch einmal im Originalton zitiert:
There is a skeleton
in the closet of her skin
that wants out. Everyone
can see it, but it is not
a conversation piece.
In the meantime
she keeps bending closer
and closer to
her shadow.
Diese stupende Kürze, der rasche schlagartige Fall der Silben – das ist im Deutschen nicht nachzuahmen. Obschon die Übersetzer (Reinhold Grimm, Hans Magnus Enzensberger, Klaus Reichert und Pollak selber) das Wichtigste von den Gedichten, nämlich ihre poetische Substanz, erhalten haben, bleibt, was in Englisch gedacht und innerlich gehört worden ist, nur mühsam transportierbar. So zum Beispiel beginnt das großartige poetologische Gedicht „Über Lyrik“ im Englischen:
A poem is a dream seen in a mirror…
Auf Deutsch wird daraus:
Ein Gedicht ist ein Traum in Spiegelschrift…
Freilich: Die Nachdichtungen bieten das maximal Mögliche, weil sie auf dem Wege von der einen in die andere Sprache das Gedicht essentiell unbeschädigt dem Leser übermitteln und nicht das „Grundgesetz“ von Lyrik verletzen, das in „Discussing Poetry“ evoziert wird:
Ein Gedicht ist ein Traum in Spiegelschrift, maskiert
als Lüge, so präzise metaphorisch verzerrt,
daß es die Wahrheit enthüllt. Nichts ist absurder
als die Wirklichkeit, nichts barer
der Weisheit als das Wissen an sich: nur
eines Magiers Hand kann die Fata Morgana der Welt dir
vor Augen zaubern, Träume nur
deuten das Geheimnis der Zeit hinter
dem klaren Geklingel der Uhr.
Felix Pollak war in Amerika weitaus bekannter als in seiner einstigen Heimat, in welcher ohnehin das Vergessen eher zu Hause ist als der Wunsch, die Spuren des geistlos Vernichteten, die Reste des leichtfertig Verlorenen zu bewahren. Felix Pollak war und ist ja nicht nur ein bedeutender Lyriker, dessen Werk aus seiner Biographie und ihren Umständen entstand, er war und ist ein Zeuge für die ungeheuerlichen Verluste.
An seiner Person werden beim Lesen der Gedichte plötzlich und wie auf einer Projektionsfläche jene Personen schattenhaft vorstellbar, die 1938 und später dem Verhängnis nicht zu entfliehen vermochten: Wie viele namenlose, ungeübte, unfertige, begabte Dichter mögen unter den Massen der Ermordeten gewesen sein?
Auch Pollak ist sich dessen bewußt, wenn er in dem Gedicht „Beim Schreiben meiner Autobiographie“ die eigene Kindheit erinnert, die Luft des Geburtsortes, „derselben Luft, der ich nur um Haar / zur Not entrann: / sonst wär ich längst ein toter junger Mann, / der niemals war…“
Die unzähligen Toten, die einst waren und doch nicht mehr gewesen sein sollen, der leichteren Nachtruhe mancher Leute wegen, führen ein geisterhaftes Nachtleben in Pollaks Gedichten, und zwar allein durch den stets präsenten Gedanken, daß er, der Dichter, durch Zufall seine Existenz zur Gänze ausschöpfen durfte: Darum teilt er das Dasein der Verschwundenen, da sie ein Teil von ihm geworden sind. Ihre Hinterlassenschaft ist jedoch nicht allein psychischer Art, sie besteht nicht nur in einem unüberhörbaren Memento, sondern vor allem in einer so bitteren wie fruchtlosen Lehre, die das Gedicht „Refugee“ ausspricht und sich dabei wie ein Epitaph anhört:
Er ist in Wien geboren
er ist in Auschwitz gestorben
er lebt in New York
Er glaubt noch immer
alle Menschen seien Brüder
unter der Haut
aber er weiß auch
daß sie einander stets
bei lebendigem Leib
die Haut abziehen werden
auf daß sie
Brüder seien.
Lyrik der achtziger Jahre? Nur wer im Denken à la mode befangen ist, wird Pollaks Gedichten diffamierend unterstellen, was sie auszeichnet: ihre kunstvolle Einfachheit.
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