XXXVIII
Gesegnet sei die Sonne anderer Länder,
die alle Menschen meine Brüder werden läßt,
weil alle Menschen sie, für einen Augenblick am Tage, so wie
aaaaaich betrachten
und für die Dauer dieses klaren Augenblicks
rein und empfindungsreich
mit einem unmerklichen Seufzer
gerührt zum ursprünglichen, wahren Menschen
aaaaawiederkehren,
der diese Sonne aufgehn sah und noch nicht vor ihr niederfiel…
Das ist natürlich – weit natürlicher
als Gold anbeten, Gott
und Kunst und Sittlichkeit…
Alberto Caeiro
I
Auf meiner Verse sichrer Säule ruhend,
aaaaaauf der ich überdaure,
flößt mir der künft’gen Zeit und des Vergessens
aaaaaAndrang doch keine Furcht ein;
denn wenn der Geist den Widerschein der Welt
aaaaastetig in sich betrachtet,
wird er zu seinem Plasma und schafft der Kunst die
aaaaaWelt und nicht den Geist.
So prägt der äuß’re Augenblick sein Merkmal
aaaaadauerhaft auf die Tafel.
Ricardo Reis
Unter den Kunstgeschöpfen, in deren Namen Fernando Pessoa dichtete und schrieb, nimmt Alberto Caeiro einen Ehrenplatz ein. Lustvoll hat der portugiesische Dichter an Caeiros Legende gewoben, bis schließlich Wahrheit und Fiktion ein unauflösbares Knäuel bildeten. Ein Musterbeispiel für diese absichtsvolle Legendenbildung ist der Brief, den Pessoa in seinem Todesjahr am 13.1.1935 – an seinen jüngeren Bewunderer, den Dichter und Kritiker Adolfo Casais Monteiro, gerichtet hat, worin es heißt: „Gegen 1912, wenn ich nicht irre (groß kann der Irrtum auf keinen Fall sein), kam ich auf den Gedanken, einige Gedichte heidnischer Art zu schreiben. Ich skizzierte einiges in freien Versen (nicht im Stil von Álvaro de Campos, sondern in einem halbwegs regelmäßigen Stil) und gab dann die Sache auf. Gleichwohl war mir in einem schlecht gewobenen Halbschatten ein ungefähres Bild der Person erschienen, die diese Verse schrieb. (Ohne mein Wissen war Ricardo Reis geboren.)
Anderthalb oder zwei Jahre später verfiel ich eines Tages auf den Gedanken, dem Sá-Carneiro einen Streich zu spielen – einen bukolischen Dichter komplizierter Art zu erfinden und ihm, wie weiß ich nicht mehr, mit einem Anstrich von Wirklichkeit vorzustellen. Ich verbrachte einige Tage damit, diesen Dichter auszuarbeiten, aber es wurde nichts daraus. An dem Tage, an dem ich es endlich aufgegeben hatte – es war der 8. März 1914 −, stellte ich mich an eine hohe Kommode, nahm ein Stück Papier und begann zu schreiben, stehend, wie ich immer wenn irgend möglich schreibe. Ich schrieb über dreißig Gedichte in einem Zuge in einer Art von Ekstase, deren Besonderheit ich nie werde definieren können. Es war der triumphale Tag meines Lebens; einen anderen dieser Art werde ich nicht erleben. Ich begann mit einem Titel: „Der Hüter der Herden“. Und dann erschien jemand, dem ich sogleich den Namen Alberto Caeiro gab. Entschuldigen Sie das Absurde des Satzes: in mir war mein Meister erschienen. Dies war meine unmittelbare Empfindung. Und sie war derart mächtig, daß ich, kaum waren die über dreißig Gedichte geschrieben, sofort zu einem anderen Bogen griff und gleichfalls in einem Zuge die sechs Gedichte niederschrieb, die den „Schrägen Regen“ Fernando Pessoas bilden. Es war die Rückkehr von Fernando Pessoa Alberto Caeiro zu Fernando Pessoa allein. Oder besser: Es war die Reaktion Fernando Pessoas auf seine Nicht-Existenz als Alberto Caeiro.“
Wie man sieht, gibt sich der Dichter, sonst ein ständig über ästhetische Probleme reflektierender und Programme entwerfender Geist, in seinem Brief jede erdenkliche Mühe, seinen Briefpartner von der Geburt Caeiros unter dem Zwang der Inspiration zu überzeugen. Doch nur zwei der vorgeblich in Ekstase verfaßten dreißig Gedichte tragen das Datum des 8.3.1914. Die übrigen sind undatiert und lassen die Frage offen, ob sie wirklich allesamt an einem Tage geschrieben worden sind. Die unter dem Manuskript des „Hüters der Herden“ figurierende Jahreszahl 1911/12 ist auf jeden Fall fiktiv – der Legende gemäß stirbt Cairo im Jahre 1915 an Tuberkulose, und sein Schöpfer wollte offenbar nicht seine gesamte dichterische Produktion auf sein letztes oder vorletztes Lebensjahr datieren. Caeiros Tod hat Pessoa nicht gehindert, zumindest Teile des „Verliebten Hirten“ im Jahre 1930 zu schreiben, als seine Beziehung zu Ophélia Queirós endgültig in die Brüche ging.
Mit dem Briefpartner ändert sich Pessoas Selbstdarstellung. Dem Kritiker João Gaspar Simões will der Dichter die Entstehung der Heteronyme, den diesbezüglichen Interessen seines Adressaten entsprechend, als Ergebnis seiner psychischen Sonderart verständlich machen. Unter dem 11.12.1931 schreibt er: „Der zentrale Punkt meiner Künstlerpersönlichkeit ist, daß ich ein dramatischer Dichter bin; in allem, was ich schreibe, verbindet sich ständig der innere Aufschwung des Dichters mit der Entpersönlichung des Dramatikers. Ich schwinge mich auf als ein anderer – das ist alles. Vom menschlichen Gesichtspunkt aus – an den der Kritiker nicht rühren sollte, weil es ihm nichts bringt, wenn er daran rührt – bin ich ein Hysteroneurastheniker bei Vorherrschaft des hysterischen Elements in der Gefühlsbewegung und des neurasthenischen in der Intelligenz und im Willen (Gewissenhaftigkeit der ersteren, Schwäche des zweiten). Sobald der Kritiker jedoch begreift, daß ich wesensgemäß ein dramatischer Dichter bin, besitzt er den Schlüssel zu meiner Persönlichkeit, so weit sie ihn oder jemand anderes, der kein Psychiater ist, was der Kritiker vermutlich nicht sein muß, fesseln kann. Mit diesem Schlüssel versehen, kann er langsam alle Schlösser meines Ausdrucks aufsperren. Er weiß dann, daß ich als dramatischer Dichter fühle, indem ich mich von mir ablöse; daß ich als Dramatiker (ohne Dichter) automatisch das, was ich fühle, in einen Ausdruck übertrage, der dem von mir Gefühlten fremd ist, indem ich fühlend eine inexistente Person aufbaue, die es in Wahrheit fühlt und per Ableitung andere Emotionen spüren kann, die ich als reines Ich zu fühlen vergessen habe.“ Pessoa hat sich ausdrücklich als eine Art Shakespeare der Lyrik aufgefaßt. Die Dichtung AIberto Caeiros, die der vorliegende Band vollständig enthält, ist für ihn daher als Kunstausdruck ebenso aufrichtig wie die Reden König Lears, der nicht Shakespeare ist, aufrichtig sind.
Die anekdotische Ausstattung, mit der Pessoa seinen „Meister“ versehen hat, gehört ebenfalls in das Kapitel Legendenbildung und ist zum Verständnis dieser Dichtung unbrauchbar. Ob wir wissen oder nicht, daß Caeiro 1889 in Lissabon auf die Welt kam, blond und blauäugig war und den Großteil seines Lebens ohne Beruf im weißgekalkten Haus einer Tante auf einem Hügel im Alentejo verbrachte und 1915 an Tuberkulose verstarb, ist für das Verständnis seiner Verse gänzlich belanglos.
Etwas ergiebiger sind Pessoas Hinweise in den „Páginas íntimas e de auto-interpretação“ auf drei Vorläufer und Anreger Alberto Caeiros: auf den Amerikaner Walt Whitman (1819-1892), den Franzosen Francis Jammes (1868-1938) und den Portugiesen Teixeira de Pascoaes (1877-1952). Whitman und Jammes verdankt Caeiro den freien, prosanahen Vers, den er, anders als der Amerikaner, ganz unpathetisch verwendet, Jammes außerdem den bukolischen Charakter seiner Gedichte. Zur allbeseelenden Lyrik von Teixeira de Pascoaes bilden Caeiros Verse erklärtermaßen den Gegenpol. Sie verzichten ausdrücklich auf den Überschwang der Gefühle bei der Betrachtung der Naturphänomene und die metaphysische Verrätselung der Welt, die Symbolisten und Saudosisten gleichermaßen gemeinsam waren. Caeiro setzt die Sinneswahrnehmungen an die Stelle der Gedanken und verzichtet ausdrücklich auf eine Gesamtdeutung der Welt – daß seine Absichten nicht vollauf verwirklicht werden, erhöht nur noch den Reiz seiner in der europäischen Lyrik der Epoche einzig dastehenden Gedichte.
Caeiro versteht sich als einfachen Dichter, ist aber alles andere als einfach, obwohl sein Vokabular eingeschränkt und seine Syntax leicht verständlich ist. Gleich die beiden ersten Verse des „Hüters der Herden“ zeigen das volle Ausmaß der Komplikation:
Nie habe ich Herden gehütet
und doch ist’s, als ob ich sie hüten würde…
Mit diesem „als ob“ setzt die Fiktion ein, die Caeiros gesamtes schmales Werk durchzieht: der „Hüter der Herden“ hütet nicht Schäfchen, sondern Empfindungen, aber seine Empfindungen sind bukolischer Natur und fangen auf und ein, was jeder Mensch im Umgang mit der Außenwelt erlebt: Blumen, Bäume, Bäche, Sonne, Mond und Sterne. Gedanken werden vom Dichter als lästiger Ballast empfunden und tunlichst abgewehrt, denn Caeiro versteht sich als Kind, das allein imstande ist, die Welt alle Augenblicke kraft seiner Empfindungen neu zu erleben.
Wenn ich jung sterben sollte, so hört doch dies:
Nie war ich mehr als ein spielendes Kind. (XIV)
Auch das Jesuskind kommt in dem blasphemischen Gedicht VIII als spielendes Kind zu dem kindhaften Dichter und bestärkt ihn in seiner (von Francis Jammes angeregten?) franziskanischen Weltfrömmigkeit, die Menschen und Dinge in einer großen Brüderlichkeit zusammenschließt:
Gesegnet sei die Sonne anderer Länder,
die alle Menschen meine Brüder werden läßt… (XXXVIII)
Manche Leser werden sich daran stoßen, daß Caeiro nichts von sozialistischen Weltverbesserern hält – im Unterschied zu Pessoas übrigen Dichtungen treten sie in Caeiros Versen gleich zweimal in Erscheinung und provozieren Caeiros Bekenntnis, an der Ungerechtigkeit in der Welt nichts ändern zu wollen, weil sie nicht durchgreifend verändert werden könne. Innerhalb von Caeiros statischem Weltgefühl ist dies eine konsequente Haltung, zu der als Äquivalent die Ablehnung des Krieges gehört, weil auch dieser brutal verändern will und dadurch in das „vollkommen äußere Wesen der Welt“ eingreift. Caeiros Lyrik ist kontemplativ und verneint jegliche Aktion außer der einen: schauen. Dynamik ist aus Caeiros Weltbild ausgeklammert; sie bleibt Álvaro de Campos, Caeiros Schüler, vorbehalten, der die zivilisatorischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts besingt.
In die bukolische Versprosa Caeiros sind die Utensilien der technischen Zivilisation nicht einbezogen. In der Ferne pfeift ein Eisenbahnzug, am Hause Caeiros rollt eine Kutsche vorbei, im Hausinneren tickt eine Uhr – das ist alles. Befremdet werden zumal deutsche Leser, die Lyrik unserer Naturdichter von Hölty bis Loerke im Ohr, auf Caeiros stolzen Anspruch reagieren, er sei ein „Dolmetsch der Natur“, ihr „Entdecker“ und ein „Argonaute der echten Sinneswahrnehmung“. Kann man abstrakter von Naturphänomenen reden als Caeiro, der stets von Blumen spricht und nie von Veilchen oder Narzissen? Will sich Caeiro am Ende über uns lustig machen, wenn er in XI feststellt:
Die Dame dort hat ein Klavier.
Es klingt angenehm, aber nicht wie das Strömen der Flüsse
oder das Säuseln der Bäume…
Will uns Caeiro zum Narren halten, indem er die gesamte ältere Bukolik in XII gelassen vom Tisch wischt?
Die Hirten Vergils, die bedauernswürdigen, sind nur Vergil,
und die Natur ist schön und uralt…
Die Frage ist offenbar, was man unter Natur versteht. Caeiros Lyrik räumt die falschen Gefühle ab, die uns die Romantik vererbt hat, und reduziert die Welt auf das Grundmuster: Mensch und Ding, auf die Polarität zwischen Sein und Denken, die zugunsten des Seins entschieden wird. Die entwaffnende (absichtsvolle) Kunstlosigkeit mancher Verse kontrastiert mit anderen, die plötzlich erhellen, weshalb Caeiro Pessoas übrigen Heteronymen als Meister erscheinen mußte:
… weil ich so groß bin wie das, was ich sehe,
nicht so groß wie ich bin.
In stiller Hinnahme der Welt und gänzlicher Ergebung in den Ablauf der Natur gipfelt Caeiros Lebensweisheit, und um ihretwillen betrachten ihn die beiden anderen Dichtergeschöpfe Pessoas, Ricardo Reis und Álvaro de Campos, als Meister.
Caeiros erster Schüler, Ricardo Reis, hat den Lehrmeister in seinem Sinne umgedeutet. Der Dichter klassizistischer Oden versteht Alberto Caeiro als objektiven Dichter (im Gegensatz zum Subjektivismus der Romantik und der spätromantischen Bewegung des Symbolismus), als wiedergeborenen Griechen und einzigen echten Vertreter einer heidnischen Erlebnisweise. Caeiro sei Heide aus Instinkt, nicht wie Nietzsche dank einer Willensanstrengung. Auch zu Ricardo Reis ist Fernando Pessoa Anekdotisches eingefallen. In dem bereits zitierten Brief an Casais Monteiro liest man: „Ricardo Reis wurde 1887 in Porto geboren (Tag und Stunde fallen mir nicht mehr ein, aber ich habe sie irgendwo), ist Arzt und lebt im Augenblick in Brasilien.“ Er sei auf einer Jesuitenschule erzogen worden und, weil Anhänger der Monarchie, freiwillig außer Landes gegangen. Latinist sei er dank fremder und ein halber Gräzist dank eigener Erziehung.
Aus den „Páginas íntimas“ erfahren wir nicht nur den Tag von Ricardo Reis’ Geburt im Kopfe des Autors, sondern auch Aufschlußreiches über die hinter diesem Heteronym steckende ästhetische Absicht. „Dr. Ricardo Reis wurde in meiner Seele am 29. Januar 1914 um 11 Uhr nachts geboren. Am Vortag hatte ich bei einer ausgedehnten Diskussion über die Exzesse der modernen Kunst, vor allem bei ihrer Verwirklichung zugehört. Nach meiner Gewohnheit, die Dinge zu fühlen, ohne sie zu fühlen, ließ ich mich auf der Welle dieser momentanen Reaktion treiben. Als mir zu Bewußtsein kam, worüber ich nachdachte, sah ich, daß ich eine neuklassische Theorie entwickelt hatte und daß ich an ihr weiterarbeitete. Ich fand sie schön und hielt es für fesselnd, wenn ich sie nach Prinzipien aufbaute, die ich weder an- noch übernehme. Es kam mir der Gedanke, sie in einen ,wissenschaftlichen‘ Neuklassizismus zu verwandeln (…), gegen zwei Strömungen zu reagieren – ebenso gegen die moderne Romantik wie gegen den Neuklassizismus à la Maurras“ (…)
Noch ein weiteres Fragment aus den „Páginas íntimas“ sei hier angeführt, weil es zeigt, wie genau sich der Dichter bei der Erschaffung der Heteronyme über deren Standort im gesamteuropäischen Konzert im klaren war. Es stammt vermutlich aus dem Jahre 1916 und lautet: „Wir können die Charakteristika der gegenwärtigen Epoche in drei Gruppen unterteilen… Wir erleben die Dekadenz, die aus dem Bankrott aller vergangenen, ja sogar noch vor kurzem gültigen Ideale resultiert. Wir erleben die Intensität, das Fieber, die turbulente Aktivität des modernen Lebens. Wir erleben schließlich den nie dagewesenen Reichtum an Gefühlen, an Ideen, an Fieberanfällen und Delirien, den die europäische Stunde uns bringt.
Die moderne Kunst muß daher:
1. entweder heiter das Gefühl der Dekadenz pflegen, indem sie skrupulös alle Dinge beachtet, die für die Dekadenz charakteristisch sind – die Nachahmung der Klassiker, die Reinheit der Sprache, die übermäßige Pflege der Form, sie alle kennzeichnend für schöpferisches Unvermögen;
2. oder mit der gesamten Schönheit der Gegenwart vibrieren lassen, mit der ganzen Woge von Maschinen, Handel und Industrien… (…)“
Die Schönheit der Gegenwart, des Handels und der Technik besingt Caeiros zweiter Schüler, der Schiffsingenieur Álvaro de Campos, in seinen frühen großen Oden. Ricardo Reis verwirklicht die Kunst der Dekadenz. Die portugiesische Sprache erlaubt keine so strenge Nachbildung antiker Metren, wie sie die deutschsprachige klassizistische Lyrik von Klopstock bis R.A. Schröder oder J. Weinheber versucht hat. Der Übersetzer hat daher zwar versucht, den sehr mannigfaltigen Rhythmus der Reis-Oden nachzugestalten, sich aber dort, wo dies allzu verkrampft wirkte, auf die Herstellung eines odengemäßen Rhythmus beschränkt. Im übrigen hat er die Reihenfolge wiederhergestellt, in der Pessoa die Oden seines klassizistischen Heteronyms bei Lebzeiten in den Zeitschriften Athena und Presença veröffentlicht hatte. Die portugiesischen Herausgeber des dichterischen Nachlasses von Pessoa, J.G. Simões und Luis de Montalvor, hatten diese Reihung grundlos abgeändert, was der brasilianische Kritiker Silva Belkior zu Recht beanstandet hat. Die deutsche Ausgabe berücksichtigt nunmehr die beiden vom Dichter selbst edierten Anthologien und schließt daran eine Auswahl von aus dem Nachlaß edierten Oden. Insgesamt enthält also die deutsche Ausgabe 74 von 127 Oden; Ricardo Reis’ Thematik kommt in dieser Auswahl vollständig zum Ausdruck.
Im Namen von Ricardo Reis hat Pessoa bis zu seinem Tode gedichtet. Diese klassizistische Kunst der Dekadenz ist ihm offenbar als eine langfristige Möglichkeit der europäischen Kunst erschienen. Tatsächlich hat der Klassizismus nach beiden Weltkriegen in Malerei, Musik und Dichtung die Künstler inspiriert; man denke an Cocteau, Prokofjew oder Giraudoux. Klassizistische Kunst erscheint nach den blutigen Konflikten der Epoche nicht als Ausdruck des Verfalls und des nahen Untergangs, sondern als Wille zur Rückbesinnung auf die europäische Überlieferung.
Epikureertum und Stoizismus sind in Ricardo Reis’ Oden unauflöslich verbunden. In der Gestalt von Spruchdichtung laden sie ein zum Lebensgenuß – „jedoch mit Maßen“ – in unserem allzu rasch vergehenden Leben. Wie Caeiro will auch Reis den Augenblick „nicht zerdenken“, sondern unzerdacht erfassen. Wie Caeiro sind ihm Vaterland und geschichtliches Handeln gleichgültig: „Dem Vaterlande zieh’ ich Rosen vor…“ Wie Caeiro geht auch ihm das Dasein vor dem Denken. Abwertend spricht auch der Klassizist von dem „betrogenen Geist, der sich allein ins fahle Blütenkleid des inneren Abgrunds hüllt“. Blaß sind die Frauengestalten in diesen Oden, ihre Namen aus Horaz entlehnt, schemenhafte Adressatinnen eines mürben Lebensgefühls, das nicht starke Emotionen sucht, sondern Stille und Fluchtpunkte in der Unrast der Welt. Wie in Bernardo Soares Buch der Unruhe heißt es auch in der Ode XXXIII:
Nicht nur, wer uns mit Haß und Neid verfolgt,
bedrückt uns und begrenzt uns; wer uns liebt,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaagrenzt uns nicht weniger ein…
Die lateinischen Götternamen, mit denen Reis seine klassizistische Lyrik schmückt, sind oftmals nur Periphrasen für die Naturkräfte:
Ceres steht für die Erde, Apollo für die Sonne, Pluto für das Reich des Todes. Reminiszenzen an die im südafrikanischen Durban genossene klassische Bildung sind Jupiter, Saturn und Hyperion. Christus erscheint in diesem Pantheon als ein weiterer Gott, „einer vielleicht, der fehlte“; seine ausschließliche Verehrung wird als unangemessen abgelehnt. Es ist keine heitere Antike, auf die sich Ricardo Reis beruft; Bacchus gibt in den Oden nur ein kurzes Gastspiel. Über Reis’ Gedichten steht das drohende Fatum. Angst vor dem Schicksal durchdringt unser Dasein, das Fatum ist die einzige Macht, die vom Dichter stark empfunden wird. Fremde Mächte bestimmen das menschliche Handeln – man spürt den Nachhall von Pessoas Bemühungen um die Erfassung gnostischer und theosophischer Lehren −, die Götter sind uns fern und fremd und überlassen uns dem Fatum, dem sie selber ausgeliefert sind. Der Mensch hat sich mit seinem Schicksal abzufinden und um so besser für ihn, wenn er es freiwillig bejaht. Das Äußerste, was Menschen erreichen können, ist Selbsterkenntnis, Einsicht in die eigene Nichtigkeit und als Folge dieser Einsicht der Rückzug aus Ehrgeiz und Anmaßung, die Abdankung von sich selbst. „Dank’ ab, sei dein eigener König!“, lautet ein Motto, das in Pessoas Werk immer wiederkehrt. Abdanken und sich mit dem Schicksal abfinden – das ist die Lebenshaltung der Dekadenz, jener Fin-de-siecle-Mentalität, die auch im Buch der Unruhe Spuren hinterlassen hat. Dessen ungeachtet ist Resignation nicht das letzte Wort des Stoikers Ricardo Reis. In der Ode XXX ermutigt er den Menschen zur heroischen Selbstverwirklichung in einer undurchschaubaren Welt.
Den einen schenkt das Schicksal
Größe, Glück den andern.
Diese Selbstaussage erfährt noch eine Ergänzung in der Ode XXXIX:
Um groß zu sein, sei ganz: Entstelle und
verleugne nichts, was dein ist. Leg, was du bist,
in dein geringstes Tun…
So sind Ricardo Reis’ Oden nicht nur ein Dokument der Dekadenzliteratur, sondern auch eine Anleitung zur Eudämonie, zum glücklichen oder zumindest abgefundenen Leben. Sie ergibt sich nicht von ungefähr aus der schöpferischen Wiederaufnahme des griechisch-römischen Erbes, das Europas Dichtern immer wieder starke Impulse vermittelt hat. Mit seinem Heteronym Ricardo Reis bekennt sich Fernando Pessoa auf Unkosten des Christentums zu dem zweiten Eckpfeiler der europäischen Tradition, zur Antike.
Georg Rudolf Lind, Nachwort
Die Dichtung Alberto Cairos ist in der vorliegenden Ausgabe vollständig enthalten. Die Oden Ricardo Reis’ sind, wie dies Silva Belkior in seinem Buch Fernando Pessoa – Ricardo Reis – os originais, as edições, o cânone das odes, Lissabon 1983, gefordert hat, in einer von der portugiesischen wie von der brasilianischen Ausgabe abweichenden Weise nach den Vorstellungen Pessoas geordnet: in das „Erste Buch“, in der Zeitschrift Athena 1924 publiziert, die acht Oden aus der Zeitschrift Presença und die Oden aus dem Nachlaß wie sie die Ática-Edition enthält. Da letztere vom Dichter nicht mehr selbst zur Publikation vorbereitet werden konnte, wurde darauf verzichtet, solche Oden aufzunehmen, die nur thematische Variationen enthalten oder im Deutschen unbefriedigt wirken, insgesamt 49 Gedichte. Der Übersetzer hat sich bemüht, die Metrik der Originale zu respektieren, wo immer dies mit einer möglichst genauen Wiedergabe des gedanklichen Gehalts zu vereinbaren war.
gehören zu den Kostbarkeiten der europäischen Dichtung dieser Epoche. Die Zweisprachigkeit der vorliegenden Ausgabe wird auch denen gerecht, die die (melancholische) Melodie und den Rhythmus der portugiesischen Sprache nicht missen wollen.
Alberto Caeiros Gedichte, die hier vollständig vorliegen, sind eine bukolische Dichtung: die Schäfchen, die er hütet, sind seine Gedanken, sie entspringen freilich dem (unmittelbaren) Anschauen der natürlichen Welt. Das Dasein steht über dem Denken: „Nie war ich mehr als ein spielendes Kind.“
Ricardo Reis ist Caeiros, des Meisters erster Schüler. In seinen klassizistischen Oden deutet er seinen Lehrer in seinem Sinne um, „pflegt heiter die Kunst der Dekadenz“. Im Namen von Ricardo Reis hat Pessoa bis zu seinem Lebensende gedichtet; für uns bilden diese Oden ein Vermächtnis, das uns heute noch begeistert. Es ist eine Anleitung zur Eudämonie, zum glücklichen oder zumindest abgefundenen Leben.
Ammann Verlag, Klappentext, 1986
Im Oktober 1985 nahm sein Buch den ersten Platz auf der SWF-Bestenliste ein. Es trug den Titel Das Buch der Unruhe: verfaßt sollte es ein Hilfsbuchhalter namens Bernardo Soares haben. Daß dieser Soares eine Fiktion ist, macht der Autorenname deutlich, der über dem Titel steht: Fernando Pessoa.
Pessoa heißt auf deutsch „Person“, was man, in Anlehnung an Hegels objektiven Zufall eine objektive Ironie, eine Ironie des Schicksals, nennen könnte. Denn kaum ein Autor hat derart nachdrücklich darauf bestanden, sich seinen Lesern als Nicht-Person zu stellen. Zu Lebzeiten hat er ein einziges Buch veröffentlicht, ein patriotisches Gedicht mit dem Titel „Botschaft“, für das 1934 Salazars Kulturbeamte einen Nebenpreis lockermachten. Sonst schrieb er für die Truhe, verdiente sein Brot als Auslandskorrespondent oder saß in Lissabons Caféhäusern herum. Erst lange nach seinem Tod im Jahr 1935 fing man an, die Manuskripte aus der Truhe in Druck zu geben. Georg Rudolf Lind, der Pessoa vorbildlich ins Deutsche übertragen hat, ist auch als Herausgeber tätig gewesen.
Das aber ist nicht alles im Hinblick auf die Verwandlung des leibhaftigen Fernando Antonio Nogueira Pessoa in eine literarische Nicht-Person. Bereits 1914 teilt er sich und seine Produktion in drei Geisterschreiber auf, die er Alberto Caeiro, Ricardo Reis und Álvaro de Campos nennt. Nicht allein, daß er jede dieser Fiktionen mit einer handfesten Biografie versieht: jede schrieb auch eine andere Sorte von Lyrik, Caeiro etwa Sinngedichte, Reis klassische oder zumindest klassisch angelegte, während de Campos seine Stilmittel von Apollinaire und Marinetti bezog und dem zwanzigsten Jahrhundert der Wohnmaschinen und der paroles en liberté Tribut zollte. Mehr noch: dieser de Campos hat Erinnerungen an seinen angeblichen Mentor Alberto Caeiro zu Papier gebracht; auch wurde Caeiro ein Vorwort von Dr. Ricardo Reis zuteil. Pessoa selbst meinte dazu in einem Brief, wenn er eines Tages die ästhetischen Streitgespräche zwischen Reis und de Campos veröffentlichen könnte, würde man ohne weiteres einsehen, daß es sich um verschiedene Personen handele und er, Pessoa, für diese Angelegenheit ohne Bedeutung sei.
Warum aber ein solches Maskenspiel, wo er doch nur in den seltensten Fällen bereit war, ein Manuskript zur Veröffentlichung aus der Hand zu geben, eine Veröffentlichung obendrein, die nur in Zeitschriften mit allerkleinster Auflage und hermetischer Machart stattfand? Pessoas willentliche Bewußtseinsspaltung sollte nicht einen realen oder imaginären Leser in die Irre führen; sie sollte vielmehr den Autor Pessoa von seinem Ich entlasten, genauer noch: von einem Unbehagen an sich selbst. So gesehen, ist Pessoa ein Erbe der Romantik und, vor allem, der französischen „Dekadenten“, wie sie sich selber nannten. Seine reale Person muß ihm lästig gefallen, sein Körper wie eine leider nicht überflüssige Maschine vorgekommen sein. Baudelaire, um nur ein Beispiel anzuführen, hat noch die Abwehr der eigenen Physis mit einem übersteigerten lyrischen Ich begleitet. Nicht so Pessoa, es sei denn, das lyrische Ich gibt sich nicht zu erkennen und schlüpft in die Gestalt einer zwar vom Autor erdachten, nach außen hin aber als fremd geltenden Person. Das Versteckspiel wäre also eine Befreiung, radikaler noch als die Selbststilisierung eines Baudelaire.
Die drei Geisterschreiber Caeiro, Reis und de Campos lenken derart wirksam vom real existierenden Autor ab, daß der sich ohne Unterlaß seinen Fiktionen, seinen Alpträumen und seinen Grübeleien hingeben kann. Schließlich sind die Geisterschreiber ja ihrerseits Fiktionen, Schildwachen sozusagen, die vor der imaginären Welt Pessoas stehen. Octavio Paz hat auf eine weitere Bedeutung der Heteronyme hingewiesen. Es sagt, sie seien nicht nur eine literarische Erfindung oder eine psychologische Notwendigkeit: in einem gewissen Sinn sind sie das, was Pessoa hätte sein können oder sein wollen; in einem anderen, tieferen Verstand aber das, was er nicht sein wollte. Abermals lautet das Schlüsselwort: eine Persönlichkeit. Indem sich Pessoa, so kann man hinzufügen, hinter Caeiro, Reis und de Campos verbirgt, ist er im wörtlichen und im übertragenen Sinn nicht „faßbar“. Wo Reales ihm zu nahe kommt, verwickelt er es in Bilder und in Wörter. Er macht keinen Hehl aus der Hilflosigkeit, die ihn zur Literatur als Manövriermasse zwingt, ebensowenig aber verschweigt er, in welchem Maß er sich in Bildern und Wörtern heimisch fühlt. Was er verschweigt, ist, daß ihm Caeiro, Reis und de Campos Hilfe leisten.
Nun findet man allerdings gerade in der Prosa, besonders im Buch der Unruhe, Partien, die akribisch Straßen, Plätze und Leute im Lissabon seiner Zeit beschreiben. Die Genauigkeit wirkt weniger verblüffend, wenn man in Betracht zieht, daß nicht sie, sondern der Hang zur Fiktion den Ausschlag gibt: daß es sich, kurz, in keiner Weise um Reales, um Beobachtetes, handeln soll, sondern um Nicht-Fiktionen, um es so zu sagen, die jederzeit in Fiktionen umschlagen können. Der Dichter, so Pessoa, ist ein Simulant, der so perfekt täuscht, daß er selbst noch simuliert, der Schmerz, den er fühlt, sei simuliert.
Einiges, nicht alles, können die Biografie und ein Lokaltermin klären. Pessoa wurde am 13. Juni 1888, vor hundert Jahren also, in Lissabon geboren. Sein Vater war Ministerialbeamter, der, wie viele in manch einer südlichen Hafenstadt, auch Musikkritiken verfaßte. Er starb früh; die Mutter heiratete in zweiter Ehe den protugiesischen Konsul in Durban, Südafrika. Dort besuchte Pessoa die High-School und gewann, als er auf die Kap-Universität überwechselte, den Königin-Victoria-Preis für einen Essay in englischer Sprache. Als er mit siebzehn Jahren nach Lissabon zurückkehrte, verlor er das Geld aus einer Erbschaft in einem absurden Druckereiprojekt, so daß er fortan als Auslandskorrespondent, zweisprachig wie er ja war, für verschiedene Handelshäuser am Hafen seinen Lebensunterhalt verdienen mußte. Seit seiner Rückkehr aus Afrika im Jahr 1905 verläßt er Lissabon nicht mehr: zuerst wohnt er in einem alten Haus zusammen mit einer altjungferlichen Tante und einer verrückten Großmutter; eine Zeitlang auch bei seiner Mutter, die abermals verwitwet war, und die restlichen Jahre mal hier, mal dort. Octavio Paz sieht in ihm einen einsamen Trinker in den Tavernen und Wirtshäusern der Altstadt. 1916 plant er, sich als Astrologe niederzulassen. Rosenkreuzler legten ihm nahe, er sei ein Auserwählter. Den Hilfsbuchhalter läßt er notieren, alle im Buch vorkommenden Personen müßten in Großbuchstaben die Anschrift LISSABON tragen.
Allein, das Leben im Ausland, die Beherrschung zweier Sprachen, das schäbige Leben als Korrespondent, die Isolierung und der Alltag in einer Hafenstadt, die bessere Tage gesehen hatte, sind eine Sache, eine andere ist die Gewalt, die das Wort über ihn und er über das Wort hat. Dieses Wechselspiel, verstärkt durch die drei Geisterschreiber, bringt eine Literatur hervor, die mittlerweile Beispielhaftes an sich hat: der Linguist Roman Jakobson meinte, Pessoa gehöre in die Reihe der Strawinsky, Picasso, Joyce, Braque, Chlebnikow und Le Corbusier, auch sie sind in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts geboren.
Hans Platschek, die horen, Heft 152, 4. Quartal 1988
Der 1888 geborene portugiesische Dichter Fernando Pessoa kam zwar in Lissabon zur Welt, verbrachte jedoch einen großen Teil seiner Jugend – vom achten bis zum zwanzigsten Lebensjahr – in Südafrika. Denn nach dem Tode seines Vaters ging die Mutter mit dem portugiesischen Konsul in Durban die Ehe ein. Der junge Pessoa stand zu seinem Stiefvater in einem ähnlichen Verhältnis, wie Baudelaire zu jenem General, mit dem der heranwachsende französische Dichter die Liebe einer wiederverheirateten Mutter zu teilen hatte.
Auf Grund seiner Erziehung in Durban und Kapstadt sprach Pessoa englisch wie seine Muttersprache und schrieb auch eine Anzahl seiner frühen Gedichte auf Englisch. Diese Zweisprachigkeit des portugiesischen Dichters mag durchaus der Ursprung seiner außergewöhnlichen, fast psychopathisch zu nennenden Wandlungsfähigkeit gewesen sein.
Denn, nicht genug, daß Pessoa in zwei verschiedenen Sprachen dichtete und zwei grundverschiedenen literarischen Traditionen angehörte – der englischen Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts und der portugiesischen Spätromantik, wie sie die Nachfolger des großen Dichters Guerra Junqueiro übten –, schrieb und veröffentlichte Pessoa darüber hinaus unter sechs verschiedenen Namen. Er bediente sich sechs deutlich unterschiedener dichterischer Ausdrucksformen, von denen jede einzelne eine klar für sich stehende Dichterpersönlichkeit, einen selbständigen heterónimo, wie Pessoa und seine Kritiker das zu nennen pflegten, glaubhaft zu machen bemüht war.
Außerstande, seine Verse mit der Unmittelbarkeit eines Wordsworth zu schreiben – er hatte immer wieder von neuem die Entscheidung zu fällen, ob er sich englisch oder portugiesisch ausdrücken sollte –, ging Pessoa daran, die zwangsläufig daraus resultierende Selbstentfremdung zu nützen. Zögernd, zwischen zwei Sprachen stehend, die ihm gleich vertraut, aber durch ihre Rivalität auch gleich fremd blieben, mußte er ständig vorgeben, daß ihm das poetische Gehaben der einen Sprache, nämlich jener, in der er gerade nicht dichtete, unbekannt sei. Aber auch im Portugiesischen lernte er bald die Idiome der fünf anderen, ihm entwachsenen Dichternaturen zum Schweigen zu bringen, wenn er seiner sechsten Dichterpersönlichkeit zum Wort verhalf.
Schon Pessoas Eigenname scheint auf sein merkwürdiges Schicksal hinzuweisen. Vom Lateinischen abgeleitet, wo mit persona u.a. die Person eines Dramas oder eine Maske bezeichnet wird, versteht man im Portugiesischen darunter nur noch eine Person im unbestimmtesten Sinne des Wortes. Mit diesem Thema der Person oder Maske beschäftigte sich Pessoa übrigens in einem der schönsten seiner Fünfunddreißig Sonette, die er 1918 in englischer Sprache als Privatdruck veröffentlichte.
Pessoa war sich der Schranken die das Schicksal oder die ihm eigene Neurose seine Begabung zwängte, durchaus bewußt. Er versuchte die Fesseln zu sprengen, indem er – einer Figur eines Pirandello-Stückes vergleichbar – anfing, tatsächlich das Leben seiner heterónimos zu führen: das fiktive Leben fiktiver Dichter, deren greifbare Werke er schrieb und veröffentlichte. In einem seiner Fünfunddreißig Sonette leitete Pessoa das Recht zu seinen possenhaften Vorspiegelungen von der Astrologie, oder wie er sich ausdrückte, von der noch viel geheimnisvolleren Patenschaft der Sterne ab.
Angeblich hat Pessoa für einige seiner heterónimos in alle Einzelheiten gellende Horoskope ausgearbeitet; ja er soll äußerst bedacht darauf gewesen sein, unter jedem Namen nur jene Art von Gedichten zu schreiben, die mit dem Sternbild übereinstimmten, das aus dem fiktiven Geburtsdatum des betreffenden heterónimo hervorging.
Im Englischen pflegte Fernando Pessoa seine metaphysischen Erwägungen und seine erotischen Vorstellungen in elegante Verse kultiviertester Sprache zu kleiden. Ganz bewußt erinnerte er sich dabei der komplizierten Syntax, des elisabethanischen Verses, der Zweideutigkeit Shakespearischer Sonette, der einschneidenden Erkenntnisse von Donne und Milton, des Esprit von Pope und Byron, der Fülle von Keats, der Abschiedsschwere von Shelley, des Rhythmus von Poe, der Melodien von Tennyson und der Sinnlichkeit Swinburnes. Die englische Lyrik Pessoas offenbart besonders in dem langen Gedicht „Antinous“ eine erstaunliche Verwandtschaft mit der frühen Dichtung Stefan Georges:
The god is dead whose cult was to be kissed…
(Tot ist der Gott, dem man küssend diente…)
Auch in den meisten portugiesischen Gedichten, die Pessoa unter seinem eigenen Namen veröffentlichte, ist er ein Spätromantiker oder Symbolist und kein Neutöner. Manchmal etwas dekadent, wie sein Freund Mario de Sá-Carneiro, der stark von Poe und Oscar Wilde beeinflußt war, hatte Pessoa besonders nach 1910 den Hang zum Okkultismus und war in dieser Hinsicht ein Vorläufer André Bretons und der Surrealisten. Obwohl er Poe ebenso hervorragend übersetzte, wie es Baudelaire und Mallarmé im Französischen zuwege brachten, war sich Pessoa stets bewußt, was er den Werken Whitmans verdankte, wenn auch niemals so deutlich wie in der pantheistischen Dichtung, die er unter den Namen Alberto Caeiro und Alvaro de Campos veröffentlichte.
Zu keiner Schaffensperiode und in keinem seiner Gedichte, die er auf Portugiesisch veröffentlichte, stand Pessoa jemals im Banne der ungezügelten erotischen Visionen, die so charakteristisch für seine englische Dichtung sind. Der Pessao, dem er im Englischen zum Ausdruck verhalf, war ebenso ein anderer, wie jeder seiner heterónimos. Er scheint die Sprache seiner disziplinierteren angelsächsischen Schuljahre gewählt zu haben, um jene Art von Gedichten zu schreiben, welche – abgesehen von einigen Wüstlingen des siebzehnten Jahrhunderts, wie dem Earl von Rochester – die meisten englischen Dichter, ja sogar Wilde und Swinburne, nur auf Französisch oder Latein zu schreiben wagten.
Als Ricardo Reis – einer der weniger produktiven heterónimos – lehnte er sich gegen die Versuchungen der Romantik und ihrer Nachfolge auf. In diesem heterónimo war er bewußt klassisch, ein gnomischer Dichter, der sich der Oden des Horaz erinnerte und der olympischeren Aussprüche Goethes und Nietzsches. In seinem Streben nach erhabener Gelassenheit waren Pope und der große portugiesische Klassizist des achtzehnten Jahrhunderts Bocage seine Vorbilder.
Unter dem Namen Alberto Caeiro ist Pessoa ein moderner Pantheist, ein ausgeglichener und optimistischer Schüler Whitmans. Stets artikulierter als William Carlos Williams, weniger journalistisch als Sandburg, war Caeiro, sprich Pessoa oder umgekehrt, bewußt differenzierter in seiner Psychologie und in seinen Anschauungen als Whitmans deutscher Schüler Max Dauthendey; oder auch als sein französischer Epigone Valéry Larbaud, der, Gides Maskierung als André Walter nachahmend, in A.O. Barnabooth seinerseits einen heterónimo ins Leben gerufen hatte.
Am meisten machte Pessoa als Alvaro de Campos von sich reden, nicht nur in Portugal, sondern auch in Frankreich, wo Armand Guibert ihn ausgezeichnet ins Französische übersetzte. Alvaro de Campos, der imaginäre Jude, der neurasthenische Anhänger des Futurismus von Marinetti, der Schiffsingenieur, der den Glauben an Mensch und Maschine verloren hat, der nicht mehr weiß, wo er hingehört, warum er eigentlich schreibt und was er im Leben erreichen will, mutet einen oft wie eine Gestalt aus Kafkas Fabeln an.
Unter dem Einfluß von Whitman, Baudelaire, Marinetti und seiner eigenen Gedichte, die er bereits unter dem Namen Alberto Caeiro – den Alvaro de Campos als seinen Meister ausgibt – veröffentlichte, schreibt Pessoa freie Verse, in denen er auf den Wegen des großstädtischen Spleens noch weiter vordringt als Guillaume Apollinaire in Zone, in Onirocritique oder in seinem Stück Les mamelles de Tieresias.
Damit betrat Pessoa eine Traumwelt, in der die Surrealisten später so heimisch werden sollten. Es ist gewiß kein Zufall, daß André Breton, als er kürzlich die Übersetzung von A Tabacaria gelesen hatte, erklärte, daß es für ihn der größte dichterische Fund der letzten fünfzehn Jahre sei.
Auf seinen geistigen Entdeckungsfahrten stößt Alvaro de Campos bis hart an die Grenzen der Halluzination, der Selbstentfremdung, ja Selbstauflösung vor. Es ist bezeichnend, daß sich Pessoa dieses Pseudonyms bediente, als er sein großes poetisches Manifest veröffentlichte, in dem er die Literatur der Zukunft definierte – von einem Zeitpunkt ausgehend, an dem das Individuum aufgehört haben würde zu existieren. Wir, die wir bereits in einer Zeit leben, in der die Grundprinzipien der Humanität jeden Tag mehr an Wert einbüßen – gleichviel, ob im Namen des Marxismus, Faschismus oder einer kopfscheu gewordenen Demokratie – können allmählich den Nihilismus und die Verzweiflung verstehen, die Alvaro de Campos in seinen Visionen verfolgten.
In dem heterónimo Bernardo Soares erlaubte sich Pessoa unbedeutend und geistlos zu sein, ein Mann mit einer lädierten Persönlichkeit, den er mit Nachsicht behandelte. Als tüchtiger Buchhalter ist Soares das, was sich der Stiefvater für Pessoa gewünscht hatte.
Als C. Pacheco veröffentlichte Pessoa nur eine Arbeit, das Beispiel eines höchst intellektuellen Futurismus oder Surrealismus. Als Antonio Mora schrieb er gar nichts, dieser heterónimo findet jedoch als der „intellektuelle Heide“, als der fiktive Meister des fiktiven C. Pacheco, Erwähnung, etwa so wie Caeiro vorgeblich der Meister von Alvaro de Campos war.
In einem Essay, den Pessoa in seinen Páginas de Doutrina Estetica veröffentlichte, unterschied er eindeutig zwischen seinen verschiedenen heterónimos:
Bernardo Soares bin ich selbst, minus meines Denkvermögens und meines Temperaments. Seine Prosa ist, mit Ausnahme der undefinierbaren Eigenschaft, die bei mir vom Intellekt herrührt, der meinen ebenbürtig. Sie ist in genau dem gleichen Portugiesisch geschrieben. Caeiro hingegen schrieb schlechtes Portugiesisch und Campos, abgesehen von gelegentlichen Entgleisungen, ein ganz ordentliches. Reis schrieb besser als ich, aber einen Stil, dessen Reinheit mir übertrieben vorkommt. Es fällt mir schwer, die Prosa von Reis zu schreiben, weswegen sie ebenso wie die Prosa von Campos unveröffentlicht bleibt. Diese Art Vorspiegelung ist ihrer Unmittelbarkeit wegen in Versen leichter als in Prosa.
Auf dem Höhepunkt seiner literarischen Laufbahn, als er in Lissabon bereits als der bedeutendste moderne portugiesische Dichter galt, veröffentlichte Pessoa in den Jahren 1924–1925 eine Anzahl von Übersetzungen, wie zum Beispiel Annie Besants The Ideals of Theosophy und Charles B. Leadbeaters Clairvoyance. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, auf Pessoas Freundschaft mit dem notorischen Mystagogen Aleister Crowley oder Meister Therion hinzuweisen. Bei der Lektüre von Crowleys Selbstbiographie entdeckte Pessoa im Horoskop, das sich der okkulte Meister selbst gestellt hatte, einen Fehler. Pessoa machte den Verfasser brieflich darauf aufmerksam. Als Folge des Briefwechsels, der sich daraus ergab, kam Crowley im August 1930 nach Lissabon, um den großen „Poeten und Astrologen“ persönlich kennenzulernen. In Portugal beschlossen Crowley und seine Begleiterin spurlos zu verschwinden, und zwar an einer Stelle der Küste des Atlantiks, die bezeichnenderweise Boca do Inferno heißt. Hiermit waren die portugiesische Polizei, Scotland Yard, mit der Crowley Schwierigkeiten hatte, und zukünftige Literarhistoriker vor ein schweres Rätsel gestellt.
Damit dürfte Pessoas Laufbahn als Taschenspieler, Schwarzkünstler und Erfinder von Tricks, mit denen er hauptsächlich sich selbst narrte, den Höhepunkt erreicht haben. Aus Bewunderung für Poe hatte er bereits viel Zeit und Energie auf die Abfassung von Kriminalromanen verschwendet, die nie veröffentlicht wurden. Aber nun war eine Mystifikation, die er selbst in Szene setzen half, zu einem Tagesereignis geworden, mit dem sich die Polizei ernsthaft beschäftigte und das die Fernschreiber der Nachrichtenagenturen in Bewegung setzte. Eine Zeitlang trug sich Pessoa mit dem Gedanken, einen neuen heterónimo zu kreieren, einen englischen Detektiv, dessen Bericht über den fingierten Selbstmord er in der englischen Presse veröffentlichen wollte, um alle Zweifel zu zerstreuen. Wie sich später herausstellte, hatte Scotland Yard sich angeblich wegen Spionage, Betrügereien oder eines Sittlichkeitsverbrechens für Crowley zu interessieren begonnen. Aber mit Pessoas Hilfe war es dem Mystagogen und seiner Begleiterin gelungen, sich aus dem Staube zu machen, was sich in Portugal leichter als in England zuwege bringen ließ. Pessoa sah zwar seinen Freund Crowley niemals wieder, nahm jedoch mit dem Meister Therion bald wieder die Korrespondenz auf, nur daß die Briefe jetzt an eine Berliner Adresse gingen. Im Jahre 1933 schrieb Crowley noch einem Mann (der Christopher Isherwood als Modell für seinen Norris gedient hatte und der vor seinen Gläubigern nach Portugal flüchtete), er solle Pessoa aufsuchen.
Nach Pessoas Tod im Jahre 1935 fand sich in den meistgelesenen Ausgaben seiner gesammelten Gedichte weiterhin die Übersetzung der „Hymn to Pan“ des Meister Therion, allerdings mit einer Fußnote, die besagte, daß es sich in Wirklichkeit nicht um eine Übertragung aus dem Englischen handelte, sondern um ein Original Pessoas. Weiter hieß es, daß Meister Therion alias Aleister Crowley niemals gelebt hätte, sondern einen neuen heterónimo, eine Schöpfung Pessoas blühender Phantasie darstellte.
Edouard Roditi, Neue Rundschau, Heft 2/3, 1956
Deutsch von Francisco Tanzer
EIN AUSTAUSCH VON HÜTEN
Ich vermache meine Sammlung von Hüten,
Stroh aus Yucatán, Fez aus Algier (1935),
russischen Biber, irischen Fischerstrick,
seidenen Chapeau-claque für die Oper, Borsalino,
einem Toten, dem portugiesischen Dichter,
meinem lieben Fernando, der alle gewöhnliche Treue
in den Wind schlagend unter sieben Namen
in sieben Tonarten schrieb, ein Mann vieler Cafés,
darunter ein Nichtraucher und ein Raucher.
Seine Dichter ließen sich nieder in Lissabon,
ihre sexuellen Vorlieben waren verschieden
wie ihre Geschichten und Dialekte.
Doch alle ihre Gedichte teilten Fernandos Geruch
und seine Einsamkeit. Wie die Tinte dem Sepiafisch
diente sein Charakter ihm dazu, sich zu verbergen.
Wer schrieb schon auf Portugiesisch,
nach dem Ersten Weltkrieg? Die Musik spielte in Paris,
der Text war englisch oder französisch.
In Lissabon stritten sich die Arbeiter an der Ecke
über Eleganz, die Manifeste der Anarchisten,
den Prozeß, den sie Artur Carlos de Barros machten,
einem Hauptmann, schuldig gesprochen,
„weil er für die Beschneidung eintrat“
und den Marranen riet, die Kirche zu meiden:
„Ich bete weder zu Holz noch zu Stein,
nur zum Alten der Tage, der alles regiert.“
Wer auf etwas versessen ist, so heißt es in Portugal,
der hat seine „Illusion“. Er aber hielt es einfach nicht aus
mit seinem eigenen letzten Hut, vor einem Glas Portwein,
Zigaretten rauchend, Marke Ideal, im selben Café.
Stanley Moss
Übersetzung Hans Magnus Enzensberger
Zwiesprachen: Monika Rinck über Fernando Pessoa am 15.5.2019 im Lyrik Kabinett, München
Hans-Jürgen Heise: Rangierbahnhof fremden Lebens
Harald Hartung: Eine Ästhetik der Abdankung. Fernando Pessoa deutsch, Merkur, Heft 493, März 1990
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Fernando Pessoa
Astrid Nettling. Ich bin eine Gestalt aus einem noch zu schreibenden Roman
Allen Ginsberg liest Fernando Pessoa – Gruß an Walt Whitman – 22. Juni 1981
Fernando Pessoa – Dokumentation.
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